Zum Inhalt springen

Judith Hermann: Aller Liebe Anfang

Als sie 1998 ihren ersten Erzählband „Sommerhaus, später“ veröffentlichte, wurde Judith Hermann aus dem Stand heraus zur Stimme des neuen literarischen Berlins erklärt: Vom Spiegel der Generation 30 plus war die Rede, auch das unsägliche Wort Fräuleinwunder wurde bemüht. Doch spätestens als einige Jahre später mit „Nichts als Gespenster“ nur eine weitere Sammlung von Erzählungen folgte, mehrten sich die kritischen Stimmen. Wurde sie anfangs noch für ihren minimalistisch-melancholischen Stil verehrt, war jetzt immer häufiger von Inhaltslosigkeit die Rede. Ihre gelangweilten Heldinnen, die eigentlich keine Probleme haben, in ihrer Selbstverliebtheit aber verzweifelt die eigene Biografie nach Bruchstellen abtasten, wurden zum Inbegriff einer vermeintlichen Institutsprosa – auch wenn Hermann selbst nie in Leipzig studiert hat.

Jetzt endlich hat sie mit ihrer vierten Veröffentlichung das getan, was schon so lange von ihr gefordert wurde: Sie hat einen Roman geschrieben – der eigentlich auch nur eine längere Erzählung ist. In „Aller Liebe Anfang“ erzählt sie auf gut 200 Seiten die Geschichte der Altenpflegerin Stella, die mit ihrem Mann Jason und der kleinen Tochter in einer Stadtrandsiedlung lebt. Der Alltag der Protagonistin wird aus den Fugen gehoben, als ein ihr unbekannter Nachbar an der Haustür klingelt und um ein Gespräch bittet. Stella lehnt ab, doch jener Mister Pfister gibt nicht auf: Wann immer er Stella allein im Haus weiß, klingelt er, und er lässt Briefe und andere Gegenstände für sie im Briefkasen zurück …

Auch bei „Aller Liebe Anfang“ mag man die Suggestivkraft von Hermanns Prosa loben. Zudem gelingt es ihr sehr gut, die Situation lange in der Schwebe zu halten: Zunächst ist Stella vom Interesse an ihrer Person geschmeichelt, fast hat man den Eindruck, sie könne sich in Mister Pfister verlieben, und erst sehr viel später mündet die Handlung in ein klassisches Stalkingszenario. Doch Hermanns literarische Welt ist nach wie vor sehr überschaubar: Die wenigen Nebenfiguren bleiben in der spärlich ausgeleuchteteten Szenenfolge blass, weil sie die nicht spezifizierte Vorstadt lieber für eine Versuchsanordnung nutzt. Und ob man nun einigen Kritikern folgen mag will, die die Handlung als Gleichnis auf Hermanns Erfahrungen mit dem Literaturbetrieb interpretieren: egal. Die Gewaltorgie am Ende von „Aller Liebe Anfang“ ist so oder so bedenklich. (cs)

Beitrag teilen: