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Schicht für Schicht: „What a devastating Turn“ von Rachel Chinouriri

Rachel Chinouriri
Rachel Chinouriri (Foto: Lauren Harris)

Auf dem fantastischen Debütalbum schält Rachel Chinouriri ihren 2000er-Indierock und diverse Traumata, bis nur noch Liebe übrig bleibt.

Laut aktuellem Trauma-Diskurs ist wenig wichtiger, als das ominöse innere Kind zu umarmen. Doch obwohl Rachel Chinouriri ihr Debütalbum selbst als eine Ansammlung unterschiedlichster Umgangsformen mit den eigenen Traumata beschreibt, verzichtet sie auf etwaigen Heilungs-Hokuspokus. Womöglich, weil sie sich mit ihren 25 Jahren sowieso noch in Rufweite zur eigenen Kindheit bewegt, oder, weil sie Narben trägt, die schlicht kein Selfcare-Ratgeber zu heilen imstande wäre: Als Tochter simbabwischer Eltern, aufgewachsen in prekären Verhältnissen in Südlondon, waren Entwurzelung, Rassismus und Unterdrückung früh ein Thema.

Anstatt sich mit ihrer Familie in die Kirche zu flüchten, wurden Indierock und Britpop ihre Anker: Coldplay statt Gospel, Songwriting statt Beichte. Einige Jahre und drei EPs später steht nun ein Debütalbum an, das klingt, als wäre es bereits ihr zehntes. „What a devastating Turn“ ist groß und doch intim, dringlich und unausweichlich, aber ungeschönt direkt wie ein Tagebuch. Eine Erzählung von Trennung, Tod und transgenerationalen Traumata.

„What a devastating Turn“ von Rachel Chinouriri: Die Entpanzerung einer neuen Indie-Hoffnung

Dabei bildet speziell der Sound der ersten Hälfte des Albums diese inhaltliche Schwere kaum ab: 2000er-Indiegitarren tänzeln um Chinouriris smoothe Gesangsmelodien, während anmutiger Britpop mit 80er-Claps und soften Synthies betupft wird. Unter all der erhabenen Tanzbarkeit brodelt es allerdings: Zugehörigkeitsfragen, verpackt in hymnische Chorusse („The Hills“), Absagen ans eigene Helfersyndrom („Never need me“) und süffisante Abrechnungen mit lästigen Ex-Freunden, pfeifend und rappend vorgetragen, irgendwo zwischen Lily Allen und Sleaford Mods („It is what it is“). Verpanzert sich Chinouriri zunächst noch hinter Nihilismus und Humor, steuert alles auf die bereits im Albumtitel angelegte Wende zu.

Und so, wie sich der Sound allmählich schält, immer akustischer und zärtlicher wird, beginnt auch die Londonerin, sich zu öffnen, berichtet vom Selbstmord einer Frau im Angesicht einer Abtreibung (Titeltrack), dem Tod eines jungen Familienmitgliedes („Robbed“) und tiefem Selbsthass („I hate myself“). Dass Chinouriri schließlich – wie auf dem Albumover – nur mit Akustikgitarre bewaffnet bei der Liebe landet, widerlegt versöhnlich die Ausgangsthese des Openers: „My god, it’s sinking in/There’s no point in anything”. Womöglich hat sie sich da getäuscht.

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