50 Grades of Shame: Münchner Kammerspiele
Sex, Sex, Sex: She She Pop erforschen in München „50 Grades of Shame“.
Theater der Gießener Schule wird gerne mal als ironisch vertrocknetes Diskurstheater geschmäht, dabei ging am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft auch durchaus Sex. Für den dann meist She She Pop zuständig waren – mit Performances wie „Bad“ und „Warum tanzt ihr nicht?“ dekonstruierte das mit allen gendertheoretischen Wassern gewaschene Kollektiv lustvoll Geschlechternormen, auch wenn zuletzt mit Stücken wie „Testament“ und „Frühlingsopfer“ verstärkt biographische und gesetztere Themen in den Vordergrund rückten (und Anerkennung durch das Establishment in Form von Festivaleinladungen ernteten).
Aber was macht man, wenn deviante Sexualität mittlerweile auch im Romantische-Wegwerfliteratur-Genre durchgesetzt ist und keinerlei subversives Potenzial mehr mitbringt? „50 Grades of Shame“ ist eine Überschreibung von Wedekinds Drama „Frühlings Erwachen“ mit E.L. James’ Roman „50 Shades of Grey“, die literaturtheoretisch zur Frage führt, welcher Stoff heute eigentlich der relevantere ist, im Theater aber ganz konkrete Fragen zum Inhalt aufwirft: „Was bedeutet Sex? Was macht eine Frau? Was ist ein Mann? Was weiß das Kind?“ Fragen, die zur Sache gehen, klar.
Interview mit She ShePop-Performerin Ilia Papatheodorou:
Ilia Papatheodorou, Morrissey gewann voriges Jahr den „Bad Sex in Fiction Award“ für eine wirklich doofe Sexszene in seinem Debütroman „List of the Lost“. Aber ist Sex in der Kunst nicht immer doof?
Ilia Papatheodorou: Das würde ich so nicht unterschreiben. Es gibt viele Beispiele, bei denen die Kunst beweist, dass Sex, dass Fantasien überhaupt darstellbar sind. Dass Sex und Kunst Verwandte sind, weil wir uns verbinden, indem wir Fantasien teilen. Im Theater ist es allerdings eine besonders große Aufgabe, über die Grenze der Mimesis zu gehen, also etwas entstehen zu lassen, das nicht auf die menschliche Mimesis, also auf die Schauspieler und Schauspielerinnen, angewiesen ist.
Als She She Pop vor 18 Jahren angefangen haben, war die Bezugnahme auf literarische oder dramatische Stoffe ein absolutes No Go für euch. Aber mittlerweile lappen solche Stoffe immer wieder in eure Stücke, aktuell Wedekinds „Frühlings Erwachen“ in „50 Grades of Shame“ an den Münchner Kammerspielen.
Papatheodorou: Der Text stellt eine Reibungsfläche her. Bei „König Lear“ war es das schiere patriarchale und kanonische Gewicht des Textes, das da gegen unsere Position in die Waagschale geworfen wurde, und wir fanden uns in unserem Verhältnis zum Text ganz leicht in der Rolle von Lears „bösen Töchtern“. Bei „Frühlingsopfer“ war es die Aufgabe, vor allem zu schweigen und die ausgeklügelten Konversationstechniken, zu denen wir neigen, wegzulassen. Bei „Frühlings Erwachen“ entsteht die Reibungsfläche zunächst durch unsere ganz neue Position an den Münchner Kammerspielen, an diesem großen traditionellen Sprechtheater. Dann gibt es Reibung durch den provozierenden Titel „50 Grades of Shame“. Provozierend, weil das den oft in Wedekind hinein interpretierten Segen der sexuellen Aufklärung in Frage stellt. Aus heutiger Sicht muss die Aufklärung kritisch gesehen werden, weil sie häufig ideologisch aufgeladen ist, weil der Aufklärer häufig seine eigene Agenda verfolgt, die nicht unbedingt der Befreiung oder der freien Entwicklung des Aufgeklärten dient. Aufklärung ist und bleibt ein Macht-Diskurs. Und Wedekinds Utopie von einer von Scham und Scheitern befreiten Sexualität bleibt Utopie.
Und weswegen habt ihr das nicht früher gesehen?
Papatheodorou: Wir mussten erst mal lange an unserer Legitimierung arbeiten, überhaupt als erkennbare künstlerische Subjekte auf der Bühne zu stehen. Es hat uns einen Großteil unserer als Frauen und Homosexuelle gemeinsam im Kollektiv verbrachten Jahre gekostet, eine Position in der deutschen Theaterlandschaft zu beziehen. Wir haben uns weit von den literarischen Theaterstoffen entfernt, um diese Position zu finden, von der aus wir uns auf der Bühne artikulieren können. Wenn wir uns heute klassischer Texte annehmen, dann tun wir das aus einer absoluten Fremdheit, aus dem Abseits heraus. Im besten Fall stellt sich dann in der Reibung mit dem Stoff ein V-Effekt ein.
Ist es nicht langweilig, seit Jahrzehnten jedes Jahr ein neues Stück auf den Markt zu werfen, immer wieder, und nicht zu wissen, wann das eigentlich aufhören soll?
Papatheodorou: Es wird schon irgendwann aufhören! Bei dem Altersdurchschnitt von Frauen auf deutschen Bühnen muss man dankbar sein, dass man als Frau in unserem Alter noch Arbeit hat. Das ist es nämlich: Arbeit, eine schöne, immer noch weitgehend unentfremdete Arbeit.
Unterscheidet ihr eigentlich noch zwischen freier Szene und Stadttheater?
Papatheodorou: Das Stadttheater ist eine bürgerliche Institution, eine knallharte Repräsentationsmaschine. Es gibt sehr viel, was da keinen Platz hat und deshalb auch nicht als der Gesellschaft zugehörig betrachtet werden kann, Frauen über 50 sind nur ein Beispiel. Was She She Pop in den letzten Jahren gemacht haben, war nur möglich in und mit der Freien Szene. In diesen Spielstätten, auf diesen Festivals wurden Erwartungen und Sehgewohnheiten verändert, da ist ein anders geschultes Publikum entstanden.
Interview: Falk Schreiber