Anna Karenina: Hamburg Ballett
John Neumeier choreografiert Tolstois Ehebruchsroman in Hamburg
Wir mäkeln ja gerne an John Neumeiers Hang zum Handlungsballett herum, aber wenn es dann fast ein Jahr lang keine Premiere gibt und der Meister einzig ein abstraktes Werk zur Uraufführung bringt („Turangalîla“, das uns tatsächlich sehr zusagte), dann fehlt uns auch was. Aber zum Ende der Spielzeit gab es im Rahmen der Hamburger Balletttage doch noch ein Stück mit echten Figuren, mit Anfang, mit Ende, mit Charakterentwicklung.
Leo Tolstois 1877/78 erschienener Verführungsroman „Anna Karenina“, in dem die adelige Titelheldin aus ihrer sicheren aber langweiligen Ehe ausbricht und an einer Affäre zerbricht, ist wie gemacht für Neumeier, der sich mit Arbeiten wie „Tatjana“, „Duse“ und „Die Möwe“ schon mehrfach als stilsicherer Fraueninszenierer beweisen konnte. Was den Choreografen allerdings weniger auszeichnet sind Humor, Distanz zum Stoff, formale wie inhaltliche Brüche – praktisch jedes seiner Handlungsballette ist geprägt von völliger Unterordnung der Performance unter die Vorlage, auch wenn Neumeier wie immer im Vorfeld betonte, noch nicht zu wissen, wie weit er sich von der Handlung entfernen möchte.
Tatsächlich ist diese „Anna Karenina“ allerdings verhältnismäßig stark an Tolstois Original angelegt. Es gibt leichte Aktualisierungen: Annas Mann Alexej ist bei Ivan Urban ein allglatter Poltiker, der stark an den französischen Präsidenten Emmanuel Macron erinnert, die Liebesgeschichte zwischen Lewin (Aleix Martínez) und Kitty (Emilie Mazon) ist eine Romanze, die man entweder als alberne Landflucht lesen kann oder als böse Ironie (aber als Ironiker ist Neumeier eigentlich nicht bekannt). Der Fokus liegt aber eindeutig auf Anna Lauderes Darstellung der Titelheldin: senhsüchtig, leidenschaftlich, chancenlos.
Im November übrigens werden sich Barbara Bürk und Clemens Sienknecht im Hamburger Schauspielhaus ebenfalls Tolstois Roman annehmen, im Rahmen ihrer Dekonstruktionen großer Ehebruchsromane: „Anna Karenina – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie“. „Anna Karenina“ als Stück der Stunde an den hanseatischen Bühnen – das immerhin ist eine ziemliche Überraschung.