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Anomalisa

Charlie Kaufmans Puppenfilm "Anomalisa" ist der bisher vielleicht beste Kinobeitrag zum Selbstoptimierungswahn – und ein unendlich zärtlicher Liebesfilm.

Die Imperfektion des Menschen und deren Anerkennung angesichts des grassierenden Selbstoptimierungszwangs sind das Kernthema von Charlie Kaufmans Puppenfilm „Anomalisa“. Vertauscht man zwei Buchstaben der titelgebenden Wortschöpfung, findet sich nicht zufällig der Titel eines weltberühmten Gemäldes darin wieder: Leonardo da Vincis „Mona Lisa“ wird gern genannt, wenn es um die Definition von Makellosigkeit geht. Dabei basiert schon der Titel auf einem Fehler: Mona sollte eigentlich monna heißen, kurz für Madonna. Auch in der Pinselführung sind kleine Unebenheiten zu erkennen, und Mona Lisas Lächeln hat gerade deshalb die Jahrhunderte überdauert, weil es undurchdringlich ist – nicht Ausdruck der Euphorie, sondern eines nicht näher bestimmbaren Zögerns und Zweifelns.

Das Bild belegt, dass es erst die feinen Kanten und Unklarheiten sind, die uns ein Kunstwerk oder einen Menschen erinnern lassen – ergibt sich nicht erst daraus wahre Perfektion? Doch das Streben nach glatter Perfektion ist allgegenwärtig, im Kino, in der Werbung, auch in der Berufswelt. Über das richtige Verhalten im Bewerbungsgespräch, im Team, im Job werden unzählige Bücher geschrieben, zentrale Stichworte der Selbstoptimierer sind Leadership Coaching und Neuro-Enhancement. Selbst die Frage, wie viel Imperfektion zulässig ist, um noch menschlich zu wirken, ist da penibel festgelegt.

Motivationstrainer Michael ist einer dieser Illusionsverkäufer. Dabei hat sich der auch von ihm lancierte Druck nach Anpassung und Rollenkonformität längst gegen ihn gewandt: Alle Menschen um ihn herum erscheinen ihm in Stimme und Gestalt identisch. In einem Hotel findet Michael in der von Selbstzweifeln geplagten Lisa (im Original: Jennifer Jason Leigh) erstmals eine einzigartige Stimme, eine Anomalie (er nennt sie Anomalisa) – die ihm aber doch nur für die Dauer einer Nacht die ersehnte Erfüllung bieten kann, bevor sein Ideal an der eigenen Realität zerschellt.

Kaufman kommt dem Wesen des Menschen teils schmerzlich nah, aus dem Stop-Motion-Ansatz kreiert er aber keinen Widerspruch. Durch ihre naturalistische Gestaltung sind die Puppen auf den ersten Blick kaum von Menschen aus Fleisch und Blut zu unterscheiden. Erst allmählich entdeckt man die Stelle, an der der Kopf zusammengesetzt ist, bei genauerem Hinschauen sogar Fingerabdrücke – ein Abbild des Menschen in seiner wunderbaren Unvollkommenheit, gleichzeitig ein Verweis auf seine Abhängigkeit. „Anomalisa“ ist ein konzeptionelles Gesamtkunstwerk und ein nahezu perfekter Film – in seinem Reichtum, seiner Zärtlichkeit und, natürlich, auch mit all seinen Makeln. (sb)

„Anomalisa“ ist auf DVD und Blu-ray im Handel erhältlich.

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