Mystery-Serie „Before“ bei Apple TV+: Warum sieht dieser Komiker tote Menschen?
„Harry und Sally“-Star Billy Crystal sieht sich in seiner allerersten ernsten Rolle den Geistern der Vergangenheit gegenüber – das kann man gut weggucken, definiert das Genre aber nicht neu.
In der Mystery-Serie „Before“ bei Apple TV+ bringt ein psychisch auffälliger Junge das Leben eines verwitweten Kinderpsychologen durcheinander, bis der Doktor sogar an seinem Wissenschaftsglauben zweifelt und glaubt, der Junge sei mit seiner Vergangenheit verknüpft. In der für ihn ungewöhnlichen ernsten Hauptrolle ist Komiker Billy Crystal („Harry und Sally“) zu sehen, Adam Bernstein (Serie „Fargo“), Eric Roth, Crystal selber und Showrunnerin Sarah Thorp haben produziert.
Nicht lange ist es her, da nahm sich die krebskranke Ehefrau Lynn (Judith Light) des frisch in den Ruhestand gegangenen Kinderpsychologen Eli (Billy Crystal) in der häuslichen Badewanne das Leben. Eli weigert sich, damit umzugehen, ständig erscheint ihm Lynn in seiner Vorstellung, ständig hört er das Wasser der Badewanne tropfen, träumt furchtbare Träume von einer Leiche, die sich immer wieder vom Sprungbrett in ein leeres Schwimmbecken stürzt. Eli besucht eine Psychiaterin, spricht aber auch mit ihr nicht über seine Trauer, sondern wehrt alle Nachfragen, ob er etwas zum Tod von Lynn verschweigt, beiseite.
Dann kratzt es eines Tages an seiner Tür – und davor steht Noah (Jacobi Jupe), ein schweigsamer Junge, der mit den Fingern eine unleserliche Nachricht in Elis Tür kratzt, bis das Blut fließt. Dann rennt er davon. Nur um eines Nachts kurz darauf in Elis Schlafzimmer zu stehen – und erneut davonzurennen. Diesmal folgt Eli dem Jungen und landet in der Wohnung, in der Noah mit seiner Adoptivmutter Denise (Rosie Perez) lebt. Eli erfährt, dass Noah schon bei vier Pflegefamilien war, und erkennt als Psychologe, dass er vor irgendetwas kolossale Angst hat. Wir sehen, wie nachts Wasser von den Decken die Wände hinabfließt, wenn Noah im Bett liegt, wie über ihm sich schließendes Eis kracht und knackt, natürlich nur in der Vorstellung des panischen Noah – aber was steckt hinter den gruseligen Halluzinationen?
„Before“ bei Apple TV+: Das Grauen in der Holzhütte
Eli muss zu seiner Überraschung feststellen, dass Noah der Junge ist, wegen dem ihn eine alte Kollegin um Hilfe bat. Er stürzt sich auf die Akten, studiert Noahs düstere Zeichnungen, praktiziert mit ihm psychlogische Übungen und Spiele. Und je länger sich Eli mit Noah beschäftigt, desto mehr bekommt er das Gefühl, dass Noah und er irgendwie verbunden sind und das hier Kräfte am Werk sind, die den erfahrenen Psychologen an die Grenzen seiner auf Wissenschaft und Logik basierenden Überzeugungen führen. Spätestens dann, als er Noah die Fotografie einer alten Holzhütte zeigt, die Eli in Lynns Sachen fand, und die sich auf vielen von Noahs Zeichnungen wiederfindet. Noah erleidet einen heftigen Anfall und ruft um Hilfe – im Niederländisch des 17. Jahrhunderts …
Gutes altes Mysterykino in Serienform
Mehr zu verraten wäre Spoilerei, und das ist gerade bei Mystery ja eine Todsünde. Sagen wir es so: Bei der zehnteiligen Miniserie „Before“ kommen Erinnerungen auf an die große Zeit des Mysterykinos Ende der 90er-und 2000er-Jahre, an „The sixth Sense“, „Die Mothman-Prophezeiungen“ mit Richard Gere oder „The Others“. Fans dieser Filme kommen hier definitiv auf ihre Kosten, und manchmal erwarten wir fast, dass gleich das „Akte X“-Duo Mulder und Scully durch die Tür kommt und seine FBI-Ausweise vorzeigt.
Das Rad wird hier aber auch nicht neu erfunden. Die Figuren entdecken bei jedem erneut betrachteten Bild ein neues dramatisch-übersinnliches Detail, und in jedem Spiegelbild erscheint garantiert etwas Unerwartet-Erwartbares oder die Musik deutet dies zumindest an. Überhaupt legt „Before“ viele kleine falsche Spuren aus, die man als geübter Mystery-Gucker schnell durchschaut, die aber dennoch Spaß machen. Mit einer Lauflänge von nur jeweils 24 bis 36 Minuten sind die einzelnen Episoden ziemlich kurz – Gruselwusel in Sitcom-Länge! Dadurch bleibt die Spannung in jeder Folge aber hoch, auch, wenn ein solcher Stoff vor zwanzig Jahren in einen zweistündigen Hollywoodfilm gepasst hätte. Diese Art von Filmen werden dort aber nicht mehr produziert, diese Geschichten erzählt nun das Streaming, und hier dauert es dann halt fünf Stunden bis zur finalen Auflösung – die dann ein wenig enttäuschend daherkommt und keinesfalls alle losen Ende zusammenfügt. Das deutet hoffentlich nicht auf eine zweite Staffel hin?
Billy Crystal, das ist nicht komisch!
Eine zweite Staffel wäre schon daher weird, weil Hauptdarsteller Billy Crystal satte 76 Jahre ist und sich auch in Rückblenden mit digital verjüngtem Gesicht mit der authentischen Steifheit eines fast 80-Jährigen auf die Knie herunterlässt. Der Mann ist einfach zu alt für ein Sequel. Sonst macht der im ernsten Fach unerfahrene Crystal seine Sache erstaunlich gut. Die Schocks, die wütend verdrängte Trauer, die depressiven Anflüge oder die Besessenheit von Noahs Fall, die uns gerne auch mal zweifeln lässt, ob Eli selber sich das Alles nicht einfach nur im Wahn ausdenkt. Gut gespielt, das Alles. Schließlich war Crystals bisher seriöseste Rolle der Kurzauftritt als einer der Totengräber in Kenneth Branaghs Verfilmung von „Hamlet“ im Jahr 1996 – und selbst das war komödiantisch angelegt.
Gut, ab und an schaut Crystal hier drein, als sähe er seinen „Harry und Sally“-Co-Star Meg Ryan zum ersten Mal mit ihrem von plastischer Chirurgie vergruseltem Gesicht, und manchmal, als müsste er einfach nur dringend auf die Toilette. Doch wenn man dauernd seine tote Frau sieht und Dinge, die nicht da sind – wer von uns weiß schon genau, ob so viel Paranormales nicht einfach auf den Verdauungstrakt geht? Schön ist, dass Crystal die kontiniuerlich dräuende und raunende Atmo der Serie hier und da mit einem trockenen Spruch auflockert.
Und muss ich „Before“ jetzt gucken?
„Before“ bei Apple TV+ ist nicht „Lost 3.0“ und definiert das Genre nicht neu, lässt sich aber ziemlich gut bingewatchen, auch aufgrund der geringen Länge der Folgen. Wir wollen immer sofort wissen, wohin der kleine Cliffhanger am Ende führt. Eine etwas aufregendere Auflösung wäre bei dem langen erzählerischem Vorbau allerdings angemessener gewesen.