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Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis

Italien als Land der Sehnsucht, der Brenner als der Ort, wo das Gefühl kommt, endgültig im Süden anzulangen: Dass gleich zwei Schriftsteller im Sommer 2016 mit diesem Motiv umgehen, ist erstaunlich – hat doch Italien in den vergangenen Jahrzehnten einiges von seiner Projektionskraft eingebüßt. Klaus Bittermann und Bodo Kirchhoff wissen das, doch es ist ihnen schlicht egal. Der eine – Bittermann – erzählt uns eine lang vergangene Geschichte. „Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück“ (Edition Tiamat, 240S., 18 Euro) beginnt im Frühjahr 1980, als Sid, ein Punk vom Land, beim Trampen von der verwöhnten 16-jährigen Adelstochter Nancy aufgelesen wird. Gemeinsam nisten sie sich in hochpreisigen Hotels ein, und Nancy bringt Sid bei, wie man teure Klamotten klaut und Hotelzechen prellt. Im schwarzen Citroën DS von Nancys Vater und vielen weiteren geklauten Autos geht die Flucht bis nach Norditalien, wo sie sich mit einem älteren anarchistischen Ehepaar anfreunden, das noch im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hat. Einen Sommer lang können Sid und Nancy ihr wildes Leben durchziehen, dann werden die beiden von der Realität eingeholt. Bodo Kirchhoff lässt seine Helden in der Jetztzeit ausbrechen. Reither, ehemaliger Kleinverleger vom Alter schon weit in den 60ern, hat in Frankfurt alle Zelte abgebrochen und sich in eine Wohnanlage im Weißachtal in der Nähe des Bodensees einkauft. Eines Abends steht Leonie Palm vor der Tür und stellt sich als die Leiterin des örtlichen Lesezirkels vor. Wenige Stunden und eine Flasche Wein später sitzen sie in Palms Auto. Zunächst auf dem Weg zum in der Nähe gelegenen Bergsee, dann immer weiter und weiter mit nur wenigen Schlafstunden Unterbrechung, bis Reither und die Palm sich immer besser kennenlernen, endlich auf Sizilien sind und in Catania noch bis in den letzten Winkel fahren, weil: Wie die Palm weiß, findet man immer eine Unterkunft, wo es mit dem Auto wegen zu enger Gässchen nicht mehr weitergeht. Hier fallen sie erstmals in ein Bett … Bodo Kirchhoff hat eine zurückgenommene, zärtliche Liebesgeschichte voller Wehmut geschrieben, mit der er – und das ist die Meisterleistung – noch zärtlicher die Geschichte von etwas ganz anderem verwebt: den entgegenkommenden Flüchtlingsstrom. Zunächst anonym als Masse am Wegesrand, dann als einzelne Menschen, schließlich als nicht mal mehr nur Hilfsbedürftige, sondern als Menschen auf Augenhöhe. Am Ende verliert Reither die Palm, wie auch schon Sid seine Nancy verlor – wenn auch aus ganz anderen Gründen. Reithers Leben aber ist komplett auf den Kopf gestellt.

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