Leben retten im Schatten der Mauer
Zwischen Kinderlähmung, Serienmord und Mauerbau: Staffel drei der ARD-Serie „Charité“ spielt im Jahr 1961 und damit in sehr bewegten Zeiten.
Nach dem Kaiserreich und dem Nationalsozialismus nun also der Sozialismus der DDR: Im Spiegel von Berlins ältestem Krankenhaus, der Charité, zeigt uns die ARD die Vergangenheit Deutschlands in der dritten Staffel ihrer historischen Serie. Nach dem Virologen Robert Koch und dem Chirurgen Ferdinand Sauerbruch wird es in der neuen Staffel entschieden weiblicher: Im Zentrum der Handlung von „Charité“ steht unter anderem die Kinderärztin Ingeborg Rapoport (Nina Kunzendorf, Foto). Sie muss sich bei ihren Bemühungen um eine engere Anbindung zwischen der Kinderstation und der Gynäkologie wiederholt gegen den Chef der Gynäkologie behaupten – Helmut Kraatz, gespielt von Uwe Ochsenknecht, hatte noch in Nazideutschland Karriere gemacht und setzte diese aufgrund seiner Fachkenntnis auch in der DDR fort. Das Trio der historisch verbürgten Figuren wird vom Gerichtsmediziner Otto Prokop (Philipp Hochmair) komplettiert, der nicht nur der Kriminalpolizei bei Gewaltdelikten unterstüztend zuarbeitetet, sondern später auch die ersten erschossenen Grenzflüchtlinge im Auftrag der Nationalen Volksarmee (NVA) obduzieren muss.
Die Handlung der Serie, die Dienstagabend in der ARD startet und bereits in der Mediathek abrufbar ist, spielt rund um den Mauerbau der DDR im Jahr 1961. Während die Personaldecke in der Charité immer dünner wird, weil eine nach dem anderen in den Westen abhaut, bereitet die NVA vor den Türen des Krankenhauses die Abschottung des Landes vor. Blutkonserven werden im Krankenhaus gelagert, Militärlaster bestimmen das Straßenbild vor der Charité, und Soldaten werden schon mal zum Blutspenden auf Station gerufen. Das wundert nicht weiter, verlief die so genannte Zonengrenze doch direkt über das Gelände des Krankenhauses. So kommt es, dass Kinder mitten in den Wirren des Mauerbaus vor den Folgen der Kinderlähmung gerettet werden – eingeschleppt aus dem Westen, wo im Gegensatz zu Ostdeutschland offensichtlich noch nicht systematisch gegen Polio geimpft wird.
Leider kommt die schillernde Figur der Ingeborg Rapoport – mit Vorsicht geurteilt nach Sichtung der ersten vier von insgesamt sechs Folgen – zu kurz. Statt dessen haben die Drehbuchautorinnen mit der von Nina Gummich gespielten und ambitionierten Nachwuchsärztin Ella Wendt eine fiktive Heldin in die Handlung eingebaut, die wohl die jüngeren Generationen der Zuschauer an die Serie binden sollen. Nichts gegen ein „Charité – Die jungen Ärzte“, aber Ingeborg Rapoport hätte so viel mehr zu erzählen. Die Frau hat nicht nur die Neugeborenenmedizin in der DDR gewaltig nach vorne gebracht. Im Gegensatz zu ihrem Gegenspieler Kraatz musste sie Nazideutschland verlassen – 1937 wurde sie nicht mehr zur mündlichen Prüfung ihrer Doktorarbeit zugelassen. 1938 in die USA emigriert, musste die Tochter einer jüdischen Mutter dann noch einmal Medizin studieren und arbeitete schließlich als Kinderärztin. Schnell politisierte sie sich, wurde wie ihr Mann Mitja Rapoport vor dem Hintergrund der Rasssentrennung zur Kommunistin und musste die USA wegen ihrer politischen Einstellung aufgrund der Kommunistenverfolgung in der McCarthy-Ära wieder verlassen. Das einzige Land, das den Rapoports schließlich noch als Heimat blieb, war die DDR. In der ARD-Mediathek kann bis zum 6. Februar eine Dokumentation über das Leben der Ehepaars Rapoport abgerufen werden. Natürlich hätte die Serie „Charité“ mit einer Stärkung der Figur Ingeborg Rapoport eine deutliche Unwucht erhalten. Und doch ist eine rein unpolitische, pragmatische Reaktion von Teilen des Klinikpersonals auf den Mauerbau einfach zu wenig, hätte eine noch stärkere politische Diskussion der Handlung sicher gutgetan.
Das soll die Bedeutung der Figur der Ella Wendt nicht schmälern. An die Charité geholt, weil sie dort die medizinischen Löcher stopfen soll, will sich Wendt mit den Überstunden in der Grundversorgung nicht zufriedengeben, sondern drängt mit aller Macht in die Forschung. Auch ohne historisches Vorbild ist sie damit eine typische Vertreterin für die beruflichen Chancen von Frauen in der DDR. Damit ist die dritte Staffel der Serie „Charité“ – obwohl sie vor 60 Jahren spielt – schon deutlich näher an unserer Lebenswelt, als es eine Serie sein könnte, die zur gleichen Zeit irgendwo in Westdeutschland spielt. jw