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Daniel Kehlmann: Tyll

Schon in „Die Vermessung der Welt“ hat es Daniel Kehlmann mit der historischen Wahrheit nicht so genau genommen. Auch in „Tyll“ nutzt er die dichterische Freiheit und versetzt die Narrenfigur Till Eulenspiegel, hier Tyll Ulenspiegel, aus dem 14. (wahrscheinliches Leben) bzw. 16. Jahrhundert (Schwanksammlung) in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges von 1618 bis 1648. Der Roman ist ein Panoptikum: ob Tylls Vater, der dicke Graf Wolkenstein, der Universalgelehrte Athanasius Kircher, Elizabeth Stuart und ihr Mann, der pfälzische Kurfürst Friedrich V., der den katastrophalen Konflikt durch Übernahme der böhmischen Krone erst mit auslöste: Sie alle laufen sich über den Weg und kreuzen auch den von Tyll.

Warum der aber per literarischer Zeitmaschine ins infernalische Chaos des Dreißigjährigen Krieges versetzt wurde, bleibt seltsam unklar. Das Buch bekommt vielleicht auch daher nach drei Vierteln Längen und könnte gleichzeitig noch einmal 480 Seiten so weitergehen oder eben auch nicht. Und als es dann aufhört, müsste es nicht zwingend an dieser Stelle sein. Kehlmann jongliert in seiner auf dem Fundament profundester Recherche errichteten, vom magischen Realismus geprägten Geschichte mit Okkultem und Mythen, Volkssagen und Gewalt; er mischt Politik mit Sozialrealismus mit den größten Schauwerten, Religion und Hokuspokus: Man liest von sprechenden Eseln, von Drachen, die nie einer sah, und die es doch gibt, ein Verschütteter entschwindet einfach so aus seinem Fast-Grab, ein anderer verschwindet nach Aufsagung eines Zauberspruchs – löste das Buch sich an irgendeiner Stelle mit einem leisen Puff in einer Rauchwolke auf, man wäre nicht über die Maßen überrascht. „Tyll“ ist ein unbedingt lesenswerter, brillant auf der Linie zwischen E und U tänzelnder Roman, ein großartiger Zaubertrick. Aber auch ein bisschen ein famoses Nichts.

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