„Im Kino gewesen. Geweint.“
Daniel Sponsel, der Leiter Dokumentarfilmfestivals DOK.fest München, liebt den Kinofilm. Er sieht diesen generell bedroht, aber in der „digitalen Leinwand“ eine zusätzliche Chance, ein cinephiles Publikum zu erreichen. Ein Plädoyer für die Versöhnung von alter und neuer Welt.
„Im Kino gewesen. Geweint.“ Diese lakonisch-knappe Notiz hat Franz Kafka in seinem Tagebuch am 20. November 1913 der Nachwelt hinterlassen. Hätte er den Moment seiner inneren Bewegung, ausgelöst durch einen Film (durch welchen ist nicht überliefert), nicht festgehalten, wenn er schon die Möglichkeit gehabt hätte, diesen Film zuhause auf dem Fernseher oder gar auf dem Laptop zu sehen? Oder ist das eine müßige Frage, die von den Herausforderungen der kulturell elementar wichtigen und uns extrem liebgewonnenen Filmkunst ablenkt? Müssen wir uns nicht eher fragen, wie uns der abendfüllende narrative Film, ganz gleich ob fiktional oder nonfiktional, als gesellschaftlich vereinbartes Narrativ generell erhalten bleibt?
Die mit merkwürdigen Argumenten geführte Diskussion um die Kanäle, über die Filmkunst präsentiert werden kann oder darf, trägt derzeit wenig dazu bei, das Überleben dieser Kunst in einer mehr und mehr digitalen Welt zu sichern. Dabei wird zum Teil an der Aufgabenstellung vorbei argumentiert und die dringend notwendige Erweiterung der Erlösmöglichkeiten für Kinofilme unnötig verzögert. Das Problem sind Anbieter im Netz mit ihrer aggressiven Preispolitik, nicht das Netz an sich. Hier wartet ein großes Publikum auf die richtigen Filme für die digitale Leinwand, ein Publikum, das möglicherweise aus verschiedenen Gründen den Weg in das Kino nicht gehen kann oder mag. Der Corona-bedingte Lockdown funktioniert hierbei als eine Art Katalysator für einen Wandel der Filmkultur (nicht der erste in ihrer Geschichte). Die ganze Branche und die Politik sind dringend gefordert, Lösungen zu finden, sonst steht das größte Opfer bald fest: die Filme selbst.
Der klickende Körper des Cineasten in Raum und Zeit
Folgt man einzelnen Beiträgen der aktuell schärfer werdenden Debatte, scheint es absolut ausgeschlossen, einen Film außerhalb eines Kinos wirklich sehen und erleben zu können. Bernhard Karl, der Leiter des Festivals Around the World in 14 Films, bemerkt dazu in einem Interview mit Tina Thiele: „Kino muss man physisch erleben, in der Konzentration einer Leinwand im abgedunkelten neutralen, nicht privaten Raum, zusammen mit anderen Menschen. Kino lässt sich nicht übertragen ins Internet. Kino ist ein einmaliges Gemeinschaftserlebnis, ein Denk-, Fühl- und Begegnungsraum, der ‚out of space‘ stattfindet und virtuell komplett seine Seele verliert, wie auch ein Konzert das tut. Ich bin mir auch nicht sicher, ob die Gewöhnung an digitale Übertragungen nicht zum eigentlichen Totengräber des Kinos wird.“
Abgesehen davon, dass ich es gewagt finde, das Sehen eines von der Festplatte abgespielten, digitalen Films im Kino mit dem Erlebnis zu vergleichen, Musikerinnen und Musikern auf einer Bühne bei ihrer Arbeit zuzusehen und zu hören, fühle ich mich mit der genannten Feststellung um meine Kindheit betrogen. Ich bin ein Kind der 60er-Jahre und meine cineastische Sozialisation sowie die Einführung in den Kanon der Filmgeschichte habe ich in den 70er-Jahren primär zuhause erfahren, auf unserem für heutige Verhältnisse eher lausigen Fernseher. Mit meinen älteren Geschwistern habe ich Samstagnacht, wenn unsere Eltern mal ausgegangen waren, im dunklen Wohnzimmer am Boden liegend, Filmklassiker gesehen. „Rio Bravo“ zum Beispiel, „Der große Diktator“ oder auch „Citizen Kane“. Ich habe bis heute nicht nur die Bilder der Filme im Kopf, sondern auch die Aufregung um den eigentlich verbotenen Fernsehabend, die Intensität des Erlebens dieser Filme. Habe ich das nur geträumt, bilde ich mir das nur ein? Habe ich meine cineastische Seele damals im TV nicht erst gefunden, sondern schon verloren? Wenig später bin ich dann regelmäßig ins Kino gegangen und habe die Filme noch einmal auf der Leinwand gesehen und generell das Kino als einen Kulturtempel für mich entdeckt. Hat mich hierzu nicht gerade die Möglichkeit, diese Filmkunst im Fernsehen sehen zu können, angestiftet?
Herbert Schwab schreibt in einem Essay anlässlich der Duisburger Filmwoche im vergangenen November: „Es ist falsch, von Online als Ort zu sprechen, der keine Reibung, Erfahrung und Körperlichkeit kennt. Auch klickende Menschen am häuslichen Computer haben Körper.“ Das mag in der Erkenntnis richtig sein, dokumentiert aber ein abstraktes Verhältnis zum Körper – dem Körper, der lediglich die Möglichkeiten der digitalen Welt nutzt. Wenn ich zuhause einen Film sehen will, reichen drei „Klicks“ und ich bin drin. Und dann? Ich kann bequem und nahe am Bildschirm sitzen, ich kann den Ton laut stellen, ich kann das Zimmer verdunkeln und ich kann auf jeden „Second Screen“ verzichten, niemand zwingt ihn mir auf. Ich kann einfach nur einen guten Film anschauen. Was ich zuhause nicht habe, ist jemand der vor mir sitzt, einen Kopf größer ist und ein Drittel der Leinwand verdeckt, oder neben mir jemand mit einer Riesentüte Popcorn.
Eine wesentliche Qualität des Ortes Kino ist der soziale Aspekt, das Gemeinschaftserlebnis Film und die Begegnung und Diskussion mit durch einen Film Verbündeten. Aber haben sie auch schon einmal einen Film gesehen, nach dessen Ende Ihnen nichts ferner lag, als gleich mit jemandem darüber zu reden? So ist es mir ergangen bei dem Antikriegsfilm „Komm und sieh“ von Elem Klimov Mitte der 80er-Jahre. Gut, das ist schon eine Weile her, war als Erlebnis allerdings so einprägsam, dass es mir heute unmittelbar dazu einfällt. Wir sollten ganz ehrlich sein: Bei unserem emphatischen Kinobegriff handelt es sich zum Teil auch um die Idealisierung und Romantisierung eines Ortes, der auch durch die Artefakte des Lebens geprägt ist – jede Medaille hat zwei Seiten. Was uns in der aktuellen Debatte gar nicht weiterbringt, ist, einem zuhause auf dem Bildschirm laufenden Film die Erzähltiefe und dem Publikum die Erlebnistiefe generell abzusprechen.
Das Kino, ein vielgestaltiger Kulturtempel?
Mit dem Kino verbinden wir Cineasten viel, den dunklen Raum, die große Leinwand mit der umfassenden Blickfeldabdeckung, das strahlend helle Bild, dazu den intensiven Ton – einnehmende Effekte, denen man sich so schnell nicht entziehen kann und will. Damit verbunden sind das förmliche Eintauchen in die Geschichten Anderer, in fremde Lebenswelten und dadurch unmittelbare Affekte von Identifikation und Empathie. Architektonisch gesehen ein zumeist schlichter Gebrauchsraum, ist das Kino kulturhistorisch ein mystischer Ort, ein Sehnsuchtsort von großer Bedeutung. Das Kino hat als der exklusive Ort für das Leitmedium Film mit seinen wahlweise utopischen, dystopischen oder auch idealistischen Weltentwürfen und dokumentarischen Welteinsichten ganze Generationen von uns unschätzbar bereichert und geprägt. Wir Cineasten sagen Kino und meinen Filmkunst. Das Kino als konkreter Ort für die Aufführung ist der Ausgangspunkt aller Filmkunst, das dürfen wir nie vergessen, nicht aus den Augen verlieren.
Das Kino kann aber viel mehr und dabei interessiert sich „Toni Erdmann“ nicht wirklich für „Fack ju Göhte“ und umgekehrt. Das Kino hat seit jeher E- und U-Musik geboten, an ein und demselben Spielort, ist Jazzclub, Staatsoper, Volksmusiktempel und Rockstadion. All das muss das Kino bieten, um zu überleben, und wir Cineasten müssen diesen Stilmix nicht nur aushalten, sondern fordern, um unseren Tempel zu erhalten, und die Politik muss den längst überfälligen Paradigmenwechsel mit angepassten Fördermodellen begleiten und voranbringen. Mehr Förderung ohne Wenn und Aber, statt der Trennung zwischen Wirtschafts- und Kulturförderung.
Ein guter Film ist ein guter Film ist ein guter Film.
Für uns Cineasten ist das Kino Synonym für Qualität. Dabei hat das Kino seine Exklusivität als Ort, an dem wir Filme sehen und erleben können, schon seit der Erfindung des Fernsehens verloren, ist nur eine unter mehreren Optionen, um audiovisuelle Erzählungen zu rezipieren. Das Fernsehen hat, wie jetzt auch die Streaming-Anbieter, eigene filmkulturelle Qualitäten entwickelt und sich doch gleichzeitig auch immer an der Kinofilmkultur bereichert. Aber nicht die Frage der Abspielkanäle, sondern die Qualitätsfrage sollte immer im Zentrum der Diskussion stehen. Es gibt großes Kino und es gibt weniger gutes Kino und wir Cineasten wollen, dass es weiterhin relevante Filmkunst gibt. Können wir uns den Exklusivitätsanspruch für das Kinos überhaupt noch leisten? Müssen wir das Publikum nicht auch mit der Filmkunst dort erreichen und abholen, wo es immer öfter unterwegs ist – im Netz? Das Rad der Geschichte wird sich nicht zurückdrehen lassen, der Geist ist aufgrund der technischen Entwicklungen aus der Flasche. Können wir uns als Cineasten dieser Entwicklung verweigern? Bekommen wir das Publikum zurück ins Kino, wenn wir ihm die Filme, um die es uns geht, im Netz verwehren?
Das Kino wird sich weiter Richtung Premiumspielstätte entwickeln, um seinen Platz zu verteidigen. Das lineare TV, mit Ausnahme von Sport, Events und News, wird aus unserem Sichtfeld verschwinden und das Streaming über diverse Plattformen wird den Großteil des Marktes besetzen. Die andere, noch viel tiefgreifendere Revolution der Digitalisierung betrifft die Narration an sich und ihre gestalterische Umsetzung. Es geht um nichts weniger als die Frage, wer in Zukunft wem was wie erzählt. Konkret: Was ist der Content von Laufbildmedien, wie sieht er aus, wer produziert ihn und wie wird das Geld damit verdient?
Die Zeit, die Zuschauerinnen und Zuschauer zur Ansicht von Laufbildmedien nicht vor dem Fernseher oder gar im Kino, sondern am Laptop, am Tablet oder gar am Smartphone verbringen, nimmt ständig zu. Die Rezeption von Laufbildmedien über Plattformen wie YouTube oder die sozialen Medien macht gerade bei jungen Menschen einen immer größeren Anteil aus. Gleichzeitig transformieren die Besonderheiten der neuen medialen Dispositive die Herstellung und damit die Wahrnehmung der Medieninhalte. Zu nennen sind hier die geringere Blickfeldabdeckung, die Darstellung im Hochbildformat, die erhöhte Schnittfrequenz, die kurze Verweildauer und die damit verbundenen neuen Voraussetzungen für die Dramaturgie – content and function follow form?
Wanted: Die Digitale Leinwand der Kinos, inklusive Erlösmodell.
Wenn Warner Bros. Entertainment, wie bereits im Dezember angekündigt, alle seine Produktionen in diesem Jahr zeitgleich im Kino und im Streaming startet, dann steckt dahinter weniger das Kalkül abgebrühter Kinoverächter, als vielmehr – Corona-bedingt – die pure Verzweiflung ob der ökonomischen Zwänge. Ob es eine gute Idee ist, mit viel Geld produzierte Filme auf der hauseigenen, wenig gebuchten Streamingplattforum zu einem Dumpingpreis feilzubieten, steht auf einem anderen Blatt. Von seinem Mythos befreit und heruntergebrochen auf seine Grundfesten, ist auch das Kino ein Business, in dem Geld verdient werden muss. Der Markt ist schnell und übersättigt und jeder neue Film verdrängt die aktuellen. Die Stimmung wird zunehmend aggressiver. Wenn wir etwas wirklich kritisieren sollten, dann nicht die Existenz von Streaminganbietern, sondern ihre zerstörerische bis selbstzerstörerische Preispolitik. Nur wer ausreichend Erlöse mit der Filmkultur erzielt, kann neue hochwertige Filme produzieren. Wer glaubt, er könnte den Markt erst ruinieren, um ihn dann alleine zu bespielen, entzieht dem Markt die Substanz.
Das Kino muss eine Koexistenz mit dem Netz nicht nur aushalten können, sondern fordern. Alle bisherigen Erhebungen über das Verhalten von Cineasten, Filmfreundinnen und Filmfreunden legen nahe, dass sich die Nutzung von Online-Angeboten und der Besuch im Kino nicht ausschließen, sondern teilweise bedingen. Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Kommunikation und damit die Aufmerksamkeit, die wir erzielen: Nur wer auf dem Markt ausreichend sichtbar ist, hat die Chance, von seinem potentiellen Publikum gesehen zu werden. Die Auswertungswege der Filme über den Kinostart, die TV-Ausstrahlung und die Online-Angebote schwächen sich gegenseitig, wenn sie zeitlich stark gestaffelt werden. In der Öffentlichkeits- und Pressearbeit kann jeder Film nur einmal Reichweite generieren. Die Kinosperrfrist repräsentiert in ihrer jetzigen Form eine Vergangenheit, die keine Zukunft mehr hat, und muss dringend überdacht werden.
Neue Konzepte liegen schon auf dem Tisch, allen voran der zusätzliche digitale Kinosaal mit der parallelen und zeitlich flexiblen „Aufführung“ der Filme auf der Leinwand und online, „kuratiert vom Kino Ihres Vertrauens“. Dabei lassen sich sogar wieder verstärkt Genres und Filmkategorien in den Kreislauf integrieren, die es im regulären Kino zuletzt schwer hatten, wie der Dokumentarfilm oder die gar nicht mehr stattfanden, wie der Kurzfilm. Es gibt bereits erste Anbieter, die sich etwas trauen. Was fehlt, ist das Bekenntnis der gesamten Branche zu diesem Schritt. Auf diese Weise ließe sich auch ein neues Publikum erreichen und gewinnen, das aus verschiedenen Gründen den Weg ins Kino nicht mehr findet oder nicht gehen kann. Und denjenigen, die das Kino als Kino lieben, würde der Weg dadurch nicht versperrt: Nur das Kino kann, was das Kino kann, wenn es mit seinen unersetzlichen Qualitäten arbeitet. Wer das Kino erhalten will, muss den Zugang zur Kinofilmkultur über alle Wege gewähren. Lassen sich im Netz die verschiedenen Formate und Wege zum Publikum zusammenbringen oder erleben wir einen „Clash of Cultures“ im wahrsten Sinne des Wortes?
Zurück zu Kafka: Und jetzt? Die Geschichten, die ihn damals berührt hatten, existieren heute in variierter Form immer noch und wollen erzählt werden. Allein die Technik und der Ort dafür sind im Wandel begriffen. Kafka hatte zu seiner Zeit keine andere Möglichkeit, als Filme im Kino zu sehen und zu erleben. Ich habe nicht nur im Kino, sondern auch schon zuhause vorm Bildschirm heimliche Tränen verdrückt. Nicht wenige. Und morgen würde ich gern ins Kino gehen, wenn es nur endlich wieder möglich wäre.
Der Text wurde zuerst veröffentlicht in Blickpunkt: Film vom 14.1.2021 und auf mediabiz.de