Der Blick aufs Wesentliche
Auf ihrem neuen Album beschäftigt sich Agnes Obel mit Manipulation und Künstlicher Intelligenz. Doch ganz hat die dänische Singer/Songwriterin ihren Glauben an die Menschlichkeit noch nicht aufgegeben.Interview: Steffen Rüth
Agnes, du bist in den vergangenen Wochen einmal um die Welt geflogen, warst erst in Tokio, dann in Los Angeles und bist seit wenigen Stunden wieder daheim in Berlin. Kannst du dich überhaupt noch auf den Beinen halten?
Agnes Obel: Und ob! Ich bin gerade total aufgekratzt, deshalb musste ich auch zuhause raus und in dieses Café hier. Aber sagen wir so: Es ist ganz gut, dass heute Freitag ist und am Wochenende nichts ansteht.
Wie vertreibst du dir auf langen Flügen die Zeit?
Obel: Meistens lese ich. Mein Mann hat mir zum Geburtstag ein Abo des New Yorker geschenkt. Das ist eine wirklich wundervolle Zeitschrift, mit der ich mich stundenlang beschäftigen kann. Ansonsten lese ich viel Poesie, um mein Englisch ein bisschen zu verbessern, außerdem Heinrich Heine im Original, damit auch mein Deutsch auf Vordermann kommt. Ich verstehe zwar alles, aber mein Ausdrucksvermögen könnte viel besser sein. Ungünstigerweise ist mein Mann auch Däne. Der Anreiz, zuhause Deutsch zu sprechen, ist also nicht groß.
Du lebst mit deinem Mann, dem Filmemacher Axel Brüel Flagstad, mit einer kurzen Unterbrechung seit 2006 in Berlin. Was ist die Stadt für dich?
Obel: Neben Kopenhagen eindeutig mein zweites Zuhause. Wir haben hier Wurzeln geschlagen. Ich liebe den Kontrast. Neukölln finde ich aufregend, die alten Ecken und kleinen Parks in Mitte sind einfach schön. Und, Entschuldigung, aber ich will dir nichts vormachen: Eine meiner Lieblingsstraßen ist die Kopenhagener Strasse in Prenzlauer Berg. (lacht)
Was interessant ist: Du bist in Europa bei dem Label Deutsche Grammophon unter Vertrag, das vor allem klassische Musik herausbringt, in Nordamerika aber bei Blue Note, einer legendären Jazz-Plattenfirma. Was denkst du darüber?
Obel: Ich finde das supercool. Für beide Labels ist meine Musik nicht ganz typisch. Es war und ist mein großes Glück, nicht in einem bestimmten Genre festzustecken. Die Musik ist mein Spielplatz. Speziell das Klavier war für mich seit meiner Kindheit immer wie ein Freund. Deshalb liebe ich es auch sehr, ganz allein in meinem Studio zu sein und total in der Musik aufzugehen. Wenn mir der Sinn nach Gesellschaft steht, gehe ich einfach nach nebenan, wo mein Mann seinen Arbeitsraum hat. Wir sind nicht nur miteinander und mit unserer jeweiligen Arbeit verheiratet, sondern auch mit der Arbeit des anderen.
„Myopia“, der Titel deines neuen Albums, bedeutet „Kurzsichtigkeit“. Welches Konzept steckt dahinter?
Obel: Den Titel hatte ich von Beginn an. Mein vorheriges Album hieß „Citizen of Glass“, es war von den Auswirkungen der Technologie auf unsere menschliche Perspektive inspiriert. „Myopia“ ist zu einem gewissen Grad eine Fortführung. Ich wollte auf meine innere Technologie schauen: Warum tun wir das, was wir tun? Das Internet mit seinen allmächtigen Konzernen schleift unsere Freiheit immer weiter ab, es lenkt uns, kontrolliert unsere Gedanken und engt die Sicht ein. Ich denke, wir wären geschützter gegen Manipulation, wenn wir uns von dem Glauben lösen könnten, wir hätten einen objektiven Blick auf alles.
Kann man die Situation irgendwie auflösen?
Obel: Abstand, Reflexion, auch Dekonstruktion können helfen. Man darf nicht gleich glauben, was man hört und sieht. Ich brauche manchmal das Gefühl, keiner Struktur außer meiner Vorstellungskraft unterworfen zu sein.
Du hast in Berlin Kulturwissenschaften, in Kopenhagen Literatur und Philosophie studiert. Wird die künstliche Intelligenz unseren Verstand irgendwann ersetzen?
Obel: Sie ist auf diesem Weg schon weit vorangekommen. Wenn ich sehe, wie Firmen und ganze Staaten politische Diskussionen kapern und steuern, mache ich mir große Sorgen. Alles, was im Netz passiert, ist darauf ausgerichtet, uns kommerziell ausbeutbar und emotional verwundbar zu machen. Ich weiß nicht, wie man das aufhalten kann. Aber es zu hinterfragen und darauf hinzuweisen ist schon mal ein Schritt.
Worum geht es in dem relativ zugänglichen Stück „Island of Doom“?
Obel: Der Song handelt von der Myopia meines Vaters: Er wurde sehr depressiv, seine Welt zog sich immer mehr zusammen, dann starb er. Sowohl mein Vater als auch mein Opa waren große Jazzliebhaber. Als ich mich bei Blue Note vorgestellt habe, war es so, als würde ich mit ihrer Stimme sprechen. Unsere Gehirnstrukturen sind geprägt von den Menschen, die wir geliebt haben und die für uns wichtig waren. Das gibt mir dann doch wieder ein Stück Hoffnung, dass sich die Menschlichkeit so leicht nicht verdrängen lässt.
Okay. Und was machst du heute Nachmittag noch?
Obel: Alex und ich gehen ausgiebig mit unserem Hund raus. Woody war die zwei Wochen bei Freunden in Kreuzberg, und er hat uns ganz schrecklich vermisst.