Die Braut, die sich jetzt traut
Judith Lefeber ist ziemlich naiv. Aber sie hat Dieter Bohlen ausgetrickst. Und wer das schafft, der wird wahrscheinlich doch noch – ein Star.
Dezente Loungebeats aus dem Nirgendwo. Im Treppenhaus des Hamburger Side-Hotels hängt in ausgetüftelter Schräge die bestimmt längste Neonröhre der Welt. Gehalten von vier verschieden langen Seilen schwebt sie bläulich glimmend über der Rezeption. Von oben, aus der offenen Lounge mit ihren 60er-Jahre-Fläzsofas und den festgeschraubten Lampen auf den Beistelltischchen, sieht die Riesenröhre aus wie ein Leuchtschwert. Judith Lefeber hat aber gerade keinen Blick für die phallische Ästhetik im Treppenhaus, sondern Durst. Großen Durst. Seit fast zwei Stunden wartet sie auf Wasser. Ihr Mund ist trocken wie der Humor von Dieter Bohlen, so kann man kein Interview machen.
Judith wurde im Frühjahr berühmt als Finalistin der RTL-Show „Deutschland sucht den Superstar” (Fan-Sprech: DSDS) mit Bohlen als Jurychef. Es gewann Alexander Klaws, aber Deutschland sucht weiter. Und sucht und sucht.
Denn Castingshows sind der Renner des Jahres. Pop und TV: eine perfekte Fusion. Monatelang promotet man ein paar Gesichter, hetzt sie ins Studio, schmeißt ein paar Singles und ein Album auf den Markt und schröpft die Fans so lange, bis die neuen Gesichter fahl werden. Dann promotet man neue Gesichter. Und die Erde dreht sich immer weiter um die Sonne.
Mit Casting-Shows werden Stars gemacht. Ihre Haltbarkeit ist gewöhnlich die von Speisequark. Judith Lefeber war schon mal drin in dieser Mühle. Auch sie war ein promotetes Gesicht. Ihr Weg war klar: Singles, Album, rein in die Charts und dann ab ins fahle Vergessen. Speisequark. Nur hat Judith nicht mitgespielt. Sie hat Dieter Bohlen enttäuscht. Dem Quotenhit DSDS warf sie ein paar Körnchen Sand ins geölte Getriebe. Irgendwann, sie hatte nur noch sieben Konkurrenten und galt als Favoritin, stand sie plötzlich da, flennte in die Kamera und schluchzte: „Ich steige aus.”
Echt mutig. – Oder eher feige? Richtig – oder doch grundfalsch? Wahrscheinlich richtig. Judith hätte eh nicht gewonnen. In Castingshows, wo das Publikum die Sender reichtelefonieren darf, gewinnt immer ein Junge. Weil Mädchen schwärmerischer sind und eher bereit, sich die Finger wund- und das Handykonto leerzuwählen für einen süßen Posterboy.
Deshalb gewinnt bei Castingshows immer der Liebling der Mädchen. Und keine Judith. Auch wenn sie bestimmt die Beste war. Sie sang wie ein Engel. Selbst kaltschnäuzig designte Mainstream-Scheußlichkeiten wie Whitney Houstons „I will always love you” jubilierte sie, als würde sie dran glauben.
Und jetzt beginnt Judiths Solokarriere, ironischerweise zeitgleich zum Start der zweiten DSDS-Staffel. Ihre erste Single ist ein Schmus namens „I will follow you”, und darin verspricht sie jemand, ihm zu folgen, „bis der letzte Vorhang fällt”, während der übliche Matsch aus Beats und Synthies ihre wunderbare Stimme umsuppt wie Rahmsoße. Entscheidung der Plattenfirma, da kann sie nix für. Sie ist jung und braucht das Geld.
Doch Judith singt, als glaubte sie an dieses „I will follow you”. Und das tut sie auch, schließlich hat sie gerade geheiratet. Nico heißt er, sie kennt ihn seit einem Jahr und lebt mit ihm in einem Kaff bei Hannover; er wird sie immer lieben, auch wenn die Karriere kippt. So ist es und nicht anders.
Einer wie Judith glaubt man, dass sie das glaubt. Ihr glaubt man, wenn sie sagt: „Ich bin damals ausgestiegen, weil es mir nur um die Musik ging.” Klingt naiv. Ist es auch. Denn dass es bei DSDS von vornherein um alles andere ging als um Musik, nämlich um Speisequark, das hätte sie wissen müssen.
Hätte sie? Sie war 21, als es losging. Das ist ziemlich jung. Man darf noch Fehler machen in diesem Alter. Zumal, wenn man davor ziemlich viel richtig gemacht hat. Die gebürtige Inderin mit deutsch-holländischen Adoptiveltern studierte Mezzosopran und Klavier in Detmold und an der Folkwang-Schule in Essen, sie hatte eine Chorkarriere hinter sich und eine kleine Band am Laufen, mit der spielte sie auf Hochzeiten und Beerdigungen.
Singen: Das war, was sie konnte und wollte, und dann kam DSDS, und Judith Lefeber aus Wiedenbrück dachte: Das ist sie. Meine Chance. War es auch. Eine riesige sogar. Doch dann die Tränen, die Flucht: „Ich hatte Angst, mich zu verlieren.”
Sie ist klein und schlank, ihr indischer Teint macht das Weiß ihrer Kleidung noch weißer und die Neonröhre im Treppenhaus noch blauer, und sie redet sehr leise. Wohin verschwindet bloß das Volumen ihrer Singstimme, wenn sie spricht? Jetzt kommen die Getränke; sie nimmt doch kein Wasser, sondern Cola. Sie trinkt gierig. Der Zucker wird sie noch durstiger machen.
In Judith Lefebers Infoblatt, verfasst von ihrer Plattenfirma, steht: „Sie war unter den letzten acht von DSDS, und damit ist sie ein Superstar.” So? Eine junge Frau, die anfängt zu weinen und abhaut, wenn es hart auf hart kommt: ein Superstar? Wenn alle Maßstäbe verrutschen, ist das oft denen am peinlichsten, die betroffen sind. Judith auch, aber nur ein bisschen. „Weil alles mit DSDS angefangen hat, musste es irgendwie rein”, windet sie sich. „Das ist eine Ironie für sich: Meine neue Plattenfirma Warner ist ja froh, dass ich da raus bin.” Nämlich raus aus den alten Kontrakten mit den DSDS-Betreibern – ein schillerndes Kapitel. Die Branche raunt von Knebelverträgen. Egal: Eine Münchner Anwaltsfirma boxte Judith raus, und zwar ruck, zuck. Wenn das so schnell ging, müssen ja rechtsverletzende Regelungen drin gestanden haben, oder? Doch Judith kennt keine Details. Muss sie auch nicht. Sie kann singen, das reicht. Das muss reichen.
Statt über Verträgen zu brüten, freut sie sich lieber kindlich scheu über den keimenden Ruhm. Über die Fans, übers Erkanntwerden. Über Briefe aus dem Pflegeheim, in denen steht, dass ein Rollstuhl einem den Lebensmut nimmt und Judiths Stimme ihn wieder zurückbringt. Neulich walzte eine dicke Riesin auf sie zu und drückte sie an sich. „Die hatte eine Brust”, lacht Judith, „darin ist mein ganzer Kopf verschwunden – ich habe Panik gekriegt! Meine Freunde standen im Hintergrund: Alles klar? Und ich: ’ch wwll hrr rwss!”
Noch denkt sie, so was sei lustig. Sie hat die richtigen Spinner noch nicht getroffen. Leute wie jene 33-Jährige, die sich als leukämiekrank ausgab und so Treffen mit Promis erschwindelte. Judith Lefeber kennt die Spinner noch nicht. Sie sieht sich umgeben von Freunden, zählt sogar die Leute von Management und Plattenfirma dazu. Dabei sitzen die doch jetzt da und kauen sich die Nägel ab vor Angst, ihr Goldkehlchen könnte im falschen Moment wieder flennen und abhauen. Judith ist zwar naiv, aber das ahnt sie schon. Und sie hat begriffen, dass die Loyalität ihrer Freunde gut messbar ist – am Plattenvertrag. Angeblich bekommt sie sagenhafte 27 Prozent der Einnahmen von jeder verkauften CD (was ihre Plattenfirma inzwischen dementiert).
„Ich habe den zweithöchsten Vertrag in Deutschland”, sagt sie leise und stolz, „nach Herbert Grönemeyer.” Vor einem solchen Deal läuft man nicht mehr weg. „Auch weil mir meine Familie”, grinst sie, „dann tierisch in den Arsch treten würde …”
Sie sitzt da in schneeweißem Leinen, wie umflattert von den Schmetterlingen, die auf ihre weite Hose gedruckt sind. Sie nuckelt an der Colaflasche, und plötzlich merkt man, dass ihre Naivität gar keine schlechte Art ist, durch die Welt zu kommen. Sie war naiv, als sie dachte, bei DSDS ginge es um Musik. Aber dann schmiss sie die Brocken hin und zerriss die angeblichen Knebelverträge in der Luft – Bohlen war ausgetrickst. Sie ist naiv, wenn sie glaubt, die Plattenleute seien ihre Freunde – und handelt einen Vertrag aus, der seinesgleichen sucht. Sie ist naiv, wenn sie glaubt, sie könne Karriere machen und zugleich ewig das einfache, unarrogante Mädchen aus Wiedenbrück bleiben – und genau deshalb will sie berühmt werden: um allen zu zeigen, dass man das schaffen kann. Dass sie es schafft.
In der Supermarktschlange stand kürzlich eine Frau vor ihr, die Judith für einen Star hielt – aber für einen ganz anderen. Êine Verwechslung, peinlich. Die Leute drumherum lachten, und Judiths kurzes Geschmeicheltsein zerploppte wie eine Seifenblase.
„Ich hätte mich”, rutscht es ihr heraus, „am liebsten erschossen.”
Matthias Wagner