Die Hose fürs Leben: „More“ von Pulp

Nach einem Vierteljahrhundert hat Jarvis Cocker seine alte Band Pulp revitalisiert – und sich selbst gleich mit.
Die etwas spack anmutende braune Cordhose, in der Jarvis Cocker, der Erfinder und Sänger von Pulp, aktuell gern herumläuft, sieht aus, als wäre er darin schon zur Schule gegangen, damals in den 70ern, in Sheffield. Das Beinkleid verstärkt freilich nur seine ohnehin nicht zu übersehende, ewig jugendliche, mindestens aber zeitlose Anmutung, selbst wenn Cocker in Wahrheit im September 62 Jahre alt wird und nach allen Maßstäben kein junger Mann mehr ist.
„More“ von Pulp erscheint am 6. Juni
Nur: Ein Jarvis Cocker kann vielleicht äußerlich den Zug der Zeit aufhalten, aber früher oder später muss auch er sich ihr stellen, der großen bösen Vergänglichkeit und ihrer hässlichsten Konsequenz – dem Tod. Die Dinge verändern sich, und man selbst ist mittendrin. Um dich herum werden die Leute alt, oder sie sterben gleich ganz. Steve Mackay, der langjährige Bassist von Pulp, hat im März 2023 eine Hirnblutung nicht überlebt. Auch Cockers Mutter Christine lebt nicht mehr, sie ist 2024 gestorben. Und du selbst erkennst, dass das Leben gelebt werden will, denn bald schon wird es zu Ende sein. „Plötzlich bist du um die sechzig, weißt nicht, ob du noch eine Beziehung hast, und fragst dich, was überhaupt nochmal dein Platz in diesem Leben ist“. So beschreibt Jarvis Cocker seine Motivationslage, die dann endlich doch zum ersten neuen Pulp-Album seit „We love Life“ vor 24 Jahren geführt hat. „Erst wenn die Dinge verschwinden, beginnst du, sie wirklich wahrzunehmen“.
Cocker hat die alten Weggefährt:innen – Gitarrist Mark Webber, Keyboarderin Candida Doyle, Schlagzeuger Nick Banks – wieder zusammengetrommelt. Im Jahr 2023 hat man zum ersten Mal seit 2011 wieder Konzerte gespielt, es waren sogar Streicher:innen auf der Bühne dabei, ein neuer Song auf der Setlist, der melancholisch betörende „Hymn of the North“. Das Zusammenspielen hat sich gut angefühlt, und vor allem: „Ich habe endlich wieder etwas gespürt.“ Jahrelang sei Cocker so ein bisschen neben dem eigenen Leben hergelaufen, jetzt war er wieder da, der Drang, etwas zu schreiben.
Jarvis hat sich hingehockt, geschrieben, geschrieben, geschrieben, und man hat den Arctic-Monkeys-Produzenten James Ford dazugeholt: In nur drei Wochen ist es praktisch fertig gewesen, das neue Album „More“. Elf Songs, und vom ersten Moment in „Spike Island“ und Cockers Offenbarung „I was born to perform/It’s a calling“ an weiß man: Auch künstlerisch hat diese Band kein Fett angesetzt. Pulp, einst vom ungelenken, aber gewitzten Cocker mit 14 an der Schule gegründet, um Freunde zu finden und Mädchen zu beeindrucken. Die 80er hindurch dümpelnd, sind sie dann 1995 – inmitten des großen Britpop-Booms – mit dem Jahrhundertwerk „Different Class“ und den Singles „Common People“ und „Disco 2000“ in die Popgeschichtsbücher eingegangen. Irgendwann später sind Erfolg und Relevanz weggekrümelt, doch jetzt haben sie noch mal so richtig einen Pflock eingeschlagen.
„I haven’t got an agenda/ I haven’t even got a gender“
Das fröhliche „Tina“ poetisiert eine frühe Fantasieromanze. „My Sex“ mit der Textzeile „I haven’t got an agenda/ I haven’t even got a gender“ ist ein weiterer von Jarvis‘ vielen Beischlafsongs, diesmal fest in der Ära der sexuellen Fluidität verortet. Das feierliche „A Sunset“ war zunächst ein Benefizsong für „The Leadmill“, den legendärsten Konzert- und Nachtclub in Sheffield. Cocker singt den Song mit seinem ebenfalls in Sheffield geborenen Freund und Kollegen Richard Hawley. „Farmers Market“ erzählt teils mit Leonard-Cohen-artiger Tiefsprechstimme vom emotionalen Wiederannähern an die Gefährtin Kim Sion, die seit einem Jahr mit Cocker verheiratet ist. Und „Grown ups“ berichtet, wie alle neuen Songs melodisch top umgesetzt, vom unweigerlichen Ankommen. „Man kann schon ziemlich lange ein unreifer Honk bleiben. Will man allerdings dauerhaft kreativ bleiben, muss man sich früher oder später die Zeit nehmen, um erwachsen zu werden.“ Er selbst ist – nach vielen Jahren in Paris – mit der Gattin nach Derbyshire gezogen, ungefähr eine Autostunde von Sheffield entfernt und idyllisch auf dem Land gelegen. „Es tut mir gut, morgens aus dem Fenster zu schauen, und die ganze Landschaft ist noch da. Je mehr Natur ich um mich habe, desto kleiner und unwichtiger fühle ich mich selbst.“
Cockers Sohn Albert, 22, aus der Ehe mit Camille Bidault-Waddington und Gitarrist bei der Indierockband Spanish Horses, sieht übrigens exakt genauso aus wie der Vater. Sollte Jarvis die Cordhose also doch mal irgendwann zu eng werden, kann sie der Sohnemann auftragen.