Don Winslow: Germany
Oh Gott, die Frau ist weg! Wie gut, dass Ex-Marine Charlie Sprague seinen alten Kumpel Frank Decker bei der Hand hat, der auf Vermisstenfälle spezialisiert ist. Das Ganze riecht arg nach Entführung, denn dass sich das schöne Barbiepüppchen Kim freiwillig von ihrem Traummann mit dem Scarface getrennt haben könnte, ist doch sehr unwahrscheinlich. Frank legt sofort los und arbeitet zunächst mit der Polizei zusammen. Doch erst seine eigenen Recherchen fördern eine vage Spur zutage, die in Kims Vergangenheit verborgen ist. Frank muss sich buchstäblich warm anziehen, denn alle Hinweise führen ins kalte Deutschland. Da Kim offensichtlich ein Opfer von Zwangsprostitution geworden ist, sucht die Ein-Mann-Armee-Decker in den Städten des Bösen: München, Stuttgart, Saarbrücken, Berlin, Köln, Hamburg … In den Rotlichtbezirken lauern natürlich böse Russen und Ukrainer, und je näher er Kim kommt, desto brutaler werden seine Gegner. Am Ende wird es ziemlich eng für Frank, denn nirgendwo ist es so hart wie in Erfurt … Auch der zweite Frank-Decker-Roman ist ein solider und spannender Hardboiled-Krimi geworden. Doch auch wenn sich Winslow gekonnt an klassischen Vorbildern orientiert, ist es mittlerweile schon sehr klischeehaft und anachronistisch, wie der gute Amerikaner den bösen Osteuropäern hinterherjagd. Sollte man bei einem plakativen Titel wie „Germany“ nicht eine in Deutschland verwurzelte Geschichte erwarten, die ihre Spannung aus einheimischen Charakteren und dem Potential der spezifischen Handlungsorte bezieht? Winslow lässt Decker aber erst auf Seite 267 in den Flieger nach Deutschland steigen. Die Handlung ist weitestgehend unabhängig von den Schauplätzen inszeniert, und der einzige Deutschlandbezug wird nur vage mit einem Lazarettaufenthalt der beiden Ex-Marines Sprague und Decker hergestellt. Auch die kulissenartigen Beschreibungen der deutschen Städte, die so stimmungsvoll wie Wikipediaeinträge den jeweiligen Kapiteln vorangestellt sind, enttäuschen einen deutschen Leser, der die Krimihandlung vor der eigenen Haustür natürlich gerne an Hand von realen Bezügen mitverfolgt hätte. Herr Winslow, wie konnte das passieren? Sie wissen doch, das wir Ihre treuesten Leser sind. Wir haben uns so gefreut, dass Ihre schaurig schönen Schurken nun endlich auch unsere Nachbarschaft zerlegen. Doch die Nennung der Hamburger Reeperbahn oder des Adlon in Berlin reichen allein noch nicht aus, damit wir stolz „Frank Decker was here“ auf unsere Häuserwände sprühen.