„Wir sind ein Marktplatz, keine Jury“

Vom 15. bis zum 19. Oktober dreht sich in Frankfurt wieder alles um das Buch. Ein Gespräch mit Buchmessen-Direktor Juergen Boos über Kritik, BookTok und den diesjährigen Ehrengast, die Philippinen.
Herr Boos, welche Bücher stehen dieses Jahr auf Ihrer ganz persönlichen Shortlist der Bücher des Jahres?
Ich lese nie nur ein Buch, sondern immer gleich mehrere auf einmal – und sie könnten unterschiedlicher kaum sein. Sehr bewegt hat mich zum Beispiel Simone de Beauvoirs Die Mandarins von Paris. Der Roman zeigt, wie existenziell Literatur sein kann und wie sie Fragen von Moral, Politik und persönlicher Verantwortung miteinander verwebt. Ganz anders, aber genauso eindrucksvoll ist Thomas Melles Haus zur Sonne, das mich mit seiner Radikalität und Verletzlichkeit nicht losgelassen hat. Zuletzt habe ich zudem einiges an Literatur von den Philippinen gelesen, die in diesem Jahr Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2025 sind.
Bei mir wechseln sich Weltliteratur und persönliche Neugier immer wieder ab. Genau diese Mischung ist es, die auch die Frankfurter Buchmesse jedes Jahr so besonders macht.
Letztes Jahr mit Italien als Gastland und den Diskussionen drumherum war es mit Sicherheit anstrengend. Freuen Sie sich, dass Sie es in diesem Jahr mit den Philippinen entspannter haben werden?
Die Ehrengastauftritte sind jedes Jahr ein Highlight der Buchmesse. Für uns geht es dabei um die Chance, neue literarische Perspektiven sichtbar zu machen. Jedes Gastland bringt seine ganz eigene Energie mit. Italien war leidenschaftlich, streitbar – und das gehört zu diesem Land. Die Philippinen treten jetzt mit einer anderen Kraft auf: vielleicht leiser, aber sehr eindringlich poetisch. Ich freue mich schon sehr auf die Begegnung mit den Philippinen. Sie bieten mit mehr als 100 Autor*innen, Poet*innen und Illustrator*innen den Messebesucher*innen ein abwechslungsreiches Programm.
Sind die Philippinen als Ehrengast interessant geworden, weil das Land mitten in einem politischen Umbruch seit mindestens Ex-Präsident Rodrigo Duterte steckt und nicht zuletzt durch 7641 verschiedene Inseln und 116 Millionen Menschen in seiner Zersplitterung äußerst reizvoll ist?
Mich faszinieren weniger die Schlagzeilen als die Stimmen selbst. 7641 Inseln bedeuten auch: 7641 Blickwinkel. Literatur wird da zum Bindeglied – sie erzählt von Brüchen, aber auch von Zusammenhalt. Und natürlich zeigt der Ehrengastauftritt auch: Literatur hat in politisch bewegten Zeiten eine besondere Rolle, sie öffnet Räume für Dialog und Orientierung. Das werden wir auch auf der diesjährigen Buchmesse sehen: Die Themen und Genres philippinischer Literatur auf den Messebühnen reichen von Postkolonialismus und politischer Unabhängigkeit über literarische Perspektiven aus der Diaspora und queerer Literatur bis zu Climate Fiction.
Welche philippinische Literatur können Sie persönlich empfehlen?
Sehr beeindruckt hat mich Jose Dalisays Killing Time in a Warm Place. Denn der Roman erzählt nicht nur eine Familiengeschichte, sondern macht auch ein Stück philippinische Zeitgeschichte erfahrbar. Patricia Evangelistas Some People Need Killing wiederum ist ein journalistisches Meisterwerk: schmerzhaft, präzise und voller Empathie.
Außerdem lohnt sich ein Blick auf die große philippinische Comics- und Graphic Novel-Szene, die international noch viel zu wenig bekannt ist – sie zeigt, wie visuell und experimentierfreudig die Literatur des Landes sein kann. Und spannend ist auch das wachsende Genre der Climate Fiction, das die ökologischen und sozialen Herausforderungen unserer Zeit literarisch verarbeitet.

Sie haben mal gesagt, dass die Frankfurter Buchmesse Übersetzer*innen sichtbarer machen und die politischen Dimensionen von Übersetzungen stärker in den Fokus rücken müssen – wie kann das in diesem Jahr mit der Landessprache Filipino und einer in Europa weitestgehend unbekannten Kultur besonders gut gelingen?
Ich erinnere mich noch an die erste Lesung, die ich auf Filipino gehört habe: Ich verstand kein Wort, aber der Klang hat mich sofort in den Bann gezogen. Übersetzen heißt in diesem Fall, nicht nur Wörter, sondern eine ganze Kultur erfahrbar zu machen. Deshalb arbeiten wir eng mit Übersetzer*innen, Verlagen und Kulturinstitutionen zusammen, um philippinische Literatur in deutscher Sprache sichtbar zu machen. Übersetzungen sind Brücken – und sie sind der Schlüssel, damit neue Welten aufgehen.
Ein Großteil der philippinischen Literatur wird übrigens auf Englisch publiziert und erst zu einem späteren Zeitpunkt in lokale Sprachen zurückübersetzt. So erreichen die Verlage von Anfang an eine breitere Leserschaft auf den Philippinen.
Die Kritik rund um die Anwesenheit von rechten Verlagen auf der Frankfurter Buchmesse ist seit Jahren allgegenwärtig, ebenso lange wird auf Kartellrechtlichkeit, Grauzonen und nicht justiziable Äußerungen aller in Frage stehenden Verlage verwiesen. Wie können die von der Buchmesse vertretenen Werte von Diversität und demokratischem Austausch trotzdem gelingen?
Ich habe diese Kritik in den vergangenen Jahren gut verstanden. Dennoch gilt: Die Frankfurter Buchmesse ist dem Gesetz verpflichtet. Wir sind ein Marktplatz, keine Jury für Inhalte. Solange Verlage sich auf legalem Boden bewegen, dürfen wir sie nicht ausschließen. Aber wir setzen klare Zeichen mit unseren Bühnen, unseren Programmen, unseren Gästen. Dort wird sichtbar, wofür wir als Buchmesse stehen: für Vielfalt, für Demokratie, für das freie Wort. Das zeigt insbesondere unser Programm Frankfurt Calling, das auch schwierige kulturpolitische Themen anspricht: von Literatur im Krieg über Book Bans in Bibliotheken bis zum Widerstand der Kulturbranche gegen den neuen Autoritarismus.
In welchem Maße kann Fantasie, wie es das diesjährige Motto suggeriert, eine mindestens aufgeheizte Luft dieser Zeit beseelen?
Fantasie ist für mich nicht Eskapismus, sondern die Fähigkeit, die Welt anders zu denken. In einer polarisierten Gesellschaft schafft sie Räume, in denen Dialog und Empathie möglich werden. Sie kühlt die Luft nicht ab, aber sie macht sie atembar. Und das ist vielleicht das Wichtigste in dieser Zeit.
Wir können durch Lyx, Bücherbüchse oder BookTok eindrucksvoll sehen, wie die lange krankende Buchbranche sich etwas rehabilitiert hat. Etablierte Verlage haben längst eigene Jugendlinien installiert, trotzdem sind die Hallen immer noch am vollsten bei den oben genannten. Wie kann die Buchbranche die Lehren aus diesen Erfolgen noch zielgerichteter übernehmen?
Ich finde es großartig, mit welcher Leidenschaft junge Menschen Bücher feiern. Das steckt an. Die Branche sollte weniger versuchen, das zu kontrollieren, und mehr zuhören: Was begeistert da eigentlich? BookTok zeigt, wie stark Communites Literatur tragen können. Die Lehre ist: Nähe zur Leserschaft ist entscheidend. Wer Formate schafft, die Teilhabe ermöglichen, wird diese Energie nutzen können. Und genau da kann die Frankfurter Buchmesse eine Plattform sein, die Tradition und Innovation verbindet.
Welche dieser drei Schlagzeilen hoffen Sie im Nachgang der Frankfurter Buchmesse 2025 in den Zeitungen zu lesen?
1) Hallen der Frankfurter Buchmesse so ausgeglichen besucht wie nie zuvor – Besucher:innen berichten von kaum Staus.
2) Langfristige Zusammenarbeit auch nach der Frankfurter Buchmesse: Deutschland und die Philippinen bieten ab 2026 jährlich 300 philippinischen Autor:innen ein Förderprogramm.
3) Die Frankfurter Buchmesse knackt neuen Besucher:innenrekord – 350.000 Menschen vor Ort.
Rekorde sind schön, aber am meisten wünsche ich mir Nachhaltigkeit. Deshalb gefällt mir die zweite Schlagzeile am besten. Weil sie von Beziehungen erzählt, die bleiben. Denn darum geht es: Brücken bauen und Netzwerke schaffen, die über fünf Messetage hinaus Bestand haben. Wenn Deutschland und die Philippinen daraus ein gemeinsames Förderprogramm entwickeln, wäre das ein Signal, das weit über die Messe hinausreicht.