Ein Banker will Absolution
Vergewaltigung vor 30 Jahren? Die Antworten auf diese Frage gefallen Banker Andy (Charly Hübner) im Film „Für immer Sommer 90“ gar nicht.
„Für immer Sommer 90“: Andy Brettschneider (Charly Hübner) hat als Banker eine Menge Geld gemacht und investiert im Sommer 2020 vor allem in die Erforschung eines Corona-Impfstoffes und in die Produktion von Wasserstoffautos. Da erhalten sein Unternehmen und seine Mutter je einen Brief, in dem eine anonym bleibende Frau die Behauptung aufstellt, Brettschneider habe sie vor 30 Jahren im Sommer 1990 vergewaltigt. Brettschneider ist empört und verdächtigt zunächst seine Kollegin Bea (Lisa Maria Potthoff), dass sie ihn ausbooten möchte. Gleichzeitig ploppen in seinem Gedächtnis Szenen aus dem Sommer 1990 auf. Damas startete Brettschneider mit Jugendfreunden an einem See im Mecklenburgischen nach dem Fußball-WM-Finale ein großes Besäufnis. Nur Schemen sind zu sehen, Brettschneider hat einen Blackout.
Und er hat nur ein Wochenende Zeit, die Sache für sich zu klären. Also setzt er sich in sein Elektroauto und geht auf Besuchsreise. Über Fulda, Salzgitter, Leipzig und Neuruppin gelangt er so bis in seinen Heimatort, das fiktive Grievow im Raum Schwerin. Es ist auch eine Reise in die Vergangenheit, und Brettschneider muss erkennen, dass er 1990 mit seinem überstürzten Aufbruch aus Grievow emotional verbrannte Erde zurückgelassen hat. Gekränkte, Verletzte und traumatisiert Verlassene treten dem Ignoranten entgegen, der nur langsam begreift, was er getan hat. Aber immerhin: Brettschneider begreift ansatzweise, und Charly Hübner weiß dies in Brettschneiders Gesicht bestens wiederzugeben, das sich vom schleimigen Grinsen zu Beginn bis zum emotional erwachenden Blick weitet.
Das Drama „Für immer Sommer 90“ ist in der Mediathek als Vierteiler aufgebaut, im linearen Fernsehen aber wird es als Fernsehfilm am Stück ausgestrahlt. Bei aller Ernsthaftigkeit strahlt er keine Larmoyanz aus, im Gegenteil: Im Zweifel kommt eher eine Pointe als Tränen, und wenn zwei ehemalige Freunde, die sich inzwischen nur noch aufs Geldvermehren konzentrieren, jetzt miteinander reden, kann man ihr leeres Leben zwischen all ihren technischen Gimmiks regelrecht greifen.
„Für immer Sommer 90“ wurde von Hübner mit produziert. Die Regisseure Jan Georg Schüttle und Lars Jessen haben beim Dreh mit sehr viel Improvisation arbeitet, die Schauspielerinnen und Schauspieler erfuhren immer nur die nächste Zielrichtung eines Dialogs und mussten oft ohne gelernten Text agieren. Das merkt man dem Film am Anfang durchaus an, andererseits brachte diese Form oftmals glaubwürdige sprachlose, dafür aber emotionale Situationen ins Bild, und das ganze Personal von Hübner über Christina Große und Stefanie Stappenbeck bis hin zu Karoline Schuch läuft auf unterschiedliche Weise zu großer Leistung auf. Das Ende ist dann äußerst tragisch, sowohl wegen der Folgen von nicht einvernehmlichem Sex, der heute klar Vergewaltigung heißt, als auch wegen einseitiger und sehr verletzter Liebe. Das und die Thematik des abgehängten Ostens sowie der Coronapandemmie als Quelle der Bereicherung im Kapitalismus sind locker in die 100 Minuten untergebracht, ohne je abstrakt aufzuscheinen und die Handlung zu stören. jw