Hamburger Kunsthalle: „Atmen“ haucht der Kunst Leben ein
Die Hamburger Kunsthalle will in der Ausstellung „Atmen“ das Atmen in der Kunst abbilden – wir befragten die Kuratorinnen dazu.
Frau Dr. Pisot, Fr. Dr. Kölle, wir atmen ungefähr 20 000 Mal am Tag. Wie machen Sie in Ihrer Ausstellung Atmen in der Hamburger Kunsthalle einen so selbstverständlichen, unsichtbaren Vorgang für die Besucherinnen und Besucher sinnlich erfahrbar?
Dr. Sandra Pisot: Wir bringen in unserer Ausstellung mehr als 100 Werke miteinander in spannungsreiche, teils epochenübergreifende Dialoge. Die Ausstellung lädt die Besucher:innen ein, sich dem facettenreichen Thema auf vielfältige Weise anzunähern und sowohl historische Analogien als auch zeitgeschichtliche Besonderheiten im künstlerischen Umgang mit dem Atmen auszumachen. Rund 45 künstlerische Positionen aus 18 Ländern widmen sich dem Atmen in seiner anhaltenden Bedeutsamkeit und erkunden dessen aktuelle Brisanz. Die interdisziplinäre Bandbreite der präsentierten künstlerischen Medien reicht dabei von Malerei, Skulptur und Installation über Fotografie und Zeichnung bis hin zu Performance, Video, Film und Sound Pieces.
Sie beziehen sich bei der Schau unter anderem auf das Atmen während Corona, das lebensrettend sein kann (Sauerstoffversorgung) oder eben tödlich (Einatmen virushaltiger Partikel); auf Atmen in Zeiten des Klimawandels (Einatmen von Ozon) oder auf George Floyds letzte Worte „I can’t breathe“ – denken wir zu wenig übers Atmen nach im Sinne von „Ich atme, also bin ich“?
Dr. Brigitte Kölle: Wenn wir über unsere Atmung nicht nachdenken, ist das ein gutes Zeichen, weil es bedeutet, dass alles funktioniert. Atmung ist aber mehr als Luft, die in und aus dem Körper strömt: Sie verrät viel über unsere Beziehung zur Welt, ist unmittelbar und unablässig. Zugleich ist die Beeinflussung und die Kontrolle über die Luft, die wir atmen, ein Mittel der Kontrolle, der Disziplinierung und letztlich der gesellschaftlichen Macht. Wer bekommt wieviel Luft zum Atmen; wer hat Zugang zu reiner Luft, wer ist verschmutzter oder gar toxischer Luft ausgesetzt? Das sind gesellschaftspolitische Fragen, die viel über unsere Gegenwart erzählen.
Hamburger Kunsthalle: Die Alten Meister sind gar nicht alt
Vermeers „Briefleserin am offenen Fenster“ scheint der Atem zu stocken während der uns unbekannten Lektüre (ein Liebesbrief?), und angesichts ihrer Ausstellung frage ich mich, ob die Mona Lisa“ eigentlich gerade die Luft anhält. Ist Kunst eigentlich endlos interpretierbar?
Dr. Sandra Pisot: Ich finde es interessant und höchst spannend, vermeintlich gegensätzliche Positionen in Verbindung zu bringen und dadurch teilweise die bestehende Ordnung und Hierarchie aufzubrechen. Die Kunst der Alten Meister in einen neuen Kontext zu stellen und damit neu zu befragen, weitet die Sinne und schärft den Blick. Plötzlich bemerkt man, dass die Alten Meister nicht so weit von unserer heutigen Lebenswirklichkeit entfernt sind, wie man vermuten könnte. Künstler:innen unserer Ausstellung, so auch Giuseppe Penone, Thomas Baldischwyler oder Markus Schinwald, beschäftigen sich in ihren Arbeiten mit der Kunst der Alten Meister.
„Atmen“ ist nach „Besser scheitern“(2013), „Warten“ (2017) und „Trauern“ (2020) die vierte Ausstellung an der Hamburger Kunsthalle, die sich gesellschaftlich relevanten Themen widmet. In Wolfsburg läuft gerade „Empowerment“ über Gleichstellung. Die Zahl solcher Ausstellungen nimmt zu, oder?
Dr. Brigitte Kölle: Es ist interessant und erhellend zu entdecken, welche Bilder Künstler:innen für geteilte Alltagserfahrungen entwickeln beziehungsweise wie sie gesellschaftlich relevante oder auch tabuisierte Bereiche in den Blick nehmen. Das ist letztlich auch der Ausgangspunkt meiner Ausstellungsreihe an der Hamburger Kunsthalle. Künstler:innen setzen sich mit kollektiven Erfahrungen auseinander. Sie agieren nicht losgelöst von dem, was uns verbindet und uns alle betrifft. Ich finde nicht, dass das ein neues Phänomen ist, aber das Interesse an solchen Ausstellungen ist sicherlich gestiegen, denn sie sprechen alle an, egal, ob man sich in der Gegenwartskunst nun gut auskennt oder nicht.
Was ist Ihr Lieblings-Kunstwerk über das Thema in der Ausstellung?
Dr. Brigitte Kölle: Alle Werke in der Ausstellung sind besonders – und nicht ohne Grund von uns ausgewählt. Daher ist diese Frage schwer zu beantworten. Ein Werk des kolumbianischen Künstlers Óscar Muñoz ist auf den ersten Blick unscheinbar – neun runde, an der Wand hängende Metallplatten –, hat es aber in sich: Sobald wir die spiegelnde Oberfläche der Platte anhauchen, taucht ein Porträt eines Verstorbenen auf. Wir können also mit unserem eigenen Atem einen Menschen gleichsam zum Leben erwecken. Das ist ein schönes Bild für die kreative Qualität, die „Inspiration“ für die der Atem stellvertretend in allen Kulturen und Religionen steht.
Dr. Sandra Pisot: Da geht es mir wie meiner Kollegin. Es ist schwer, ein Werk besonders hervorzuheben, dennoch: Die beiden Flötenspieler von Hendrick ter Brugghen, der zur Gruppe der in Utrecht tätigen Nachfolger Caravaggios gehörte, vereinen zwei wesentliche Aspekte des Atmens: Kreativität und Vergänglichkeit. Der Klang der Flöte hallt nur solange nach und bleibt damit nur solange am Leben, wie der Atem des Musikers andauert. Geht ihm die Puste aus, „stirbt“ der Ton und hinterlässt Stille. Dies zeigt, dass Atem und Geist, Seele und Inspiration eng miteinander verbunden sind, einander bedingen. Sie erhalten nicht nur das Leben, sondern befördern auch unsere Kreativität und Schaffenskraft.
Interview: Volker Sievert