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Jahrhundertfrauen

Braucht man für die Erziehung eines Jungen einen Mann? Nein, findet die melancholische Tragikomödie „Jahrhundertfrauen“ mit Annette Bening. Man braucht vor allem Herz – und ein paar hilfsbereite Frauen.

Santa Barbara, Kalifornien, 1979: Die Wellen des opalgrünen Pazifiks branden an den kilometerlangen Sandstrand wie die pubertäre Verwirrung den 15-jährigen Jamie (Lucas Jade Zuman) überrollt – und seine Mutter Dorothea (Annette Bening) gleich mit. Denn je älter ihr Sohn wird, desto weniger versteht die alleinerziehende Dorothea ihn. Also überredet die resolute und doch sensible Kettenraucherin ihre Mittzwanziger-Mitbewohnerin Abbie (Greta Gerwig) und Jamies gute Freundin Julie (Elle Fanning) dazu, sie bei der Erziehung des zum Mann reifenden Jungen zu unterstützen. „Braucht man nicht einen Mann, um einen Mann zu erziehen?“, fragt Julie skeptisch. „Nein“, antwortet Dorothea nach kurzem Zögern. Der ebenfalls in der alten Villa wohnende Mechaniker William (Billy Crudup) wird dabei gar nicht erst gefragt …

„Jahrhundertfrauen“ erzählt von der heilsamen Kraft einer Patchworkfamilie. Es geht um kleine und große Wunden, Veränderungen von Geschlechterrollen und ums Älter werden, das mit 55 fast schwerer als mit 15 ist. Kulturelle Schocks treffen Dorothea ebenso hart wie Abbie ihre Krebsdiagnose und Julie die Einsicht, dass sie vom herumvögelnden Teenie zur Frau werden muss.Der Film mäandert mit Lust und Laune durch seine Geschichte, die Regisseur Mike Mills mit Wehmut, Zärtlichkeit und vielen visuellen Mitteln sinnlich erfahrbar macht: Zeitdokumentarische Fotografien aus Kultur, Politik und Gesellschaft bebildern die biografischen Rückblicke der Figuren, die Dorothea, Jamie, Abbie, Julie und William selber als Voice-over einsprechen. Schneller Vorlauf illustriert das Tempo ihrer Erlebnisse, kaleidoskophaft verwischte Bilder die drogenfreie Rauschhaftigkeit des Seins im „Land der Träume“ genannten Kalifornien.

Subtil webt Mills auch historische Ecksteine wie die berühmte Malaise Speech ein, in der US-Präsident Jimmy Carter den Konsumwahn und den Materialismus der Amerikaner kurz vor dem Dekadenwechsel beklagte. Und wo Carter damals resigniert war, ist Mills in Person von Dorothea nostalgisch: Vorbei sind die noch von den Nachwehen der Hippiebewegung geprägten und verklärten 70er-Jahre, in denen man am geselligen Essenstisch bei Rotwein und Zigaretten nicht laut und wiederholt das Wort „Menstruation“ aussprach, weil man es eben konnte. Nun kommen die 80er, nun kommen Punk, Feminismus, Reagan und Aids! Die „Jahrhundertfrauen“ aber werden ihren Weg trotzdem weitergehen, gehen müssen – schön, dass man sie dabei ein Stück begleiten konnte. vs

Die Spielzeiten von „Jahrhundertfrauen“ gibt es hier.

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