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James Grady: Die letzten Tage des Condor

Ja, auch ich wollte mal Geheimagent werden! Fasziniert von Filmen und Büchern rangierte schon bald der aufregendste Beruf der Welt ganz oben auf meiner Wunschliste. Es hätte ja nicht immer Kaviar sein müssen, aber geschüttelte Martinis, eine Walther PPK, ein Aston Martin mit Schleudersitz und Fernreisen auf Staatskosten hatten schon ihre Reize auf mich ausgeübt. Damit hat mich Ian Flemming angefixt. Später las ich bei John Buchan, Len Deighton, John le Carré und Ross Thomas, dass Spione auch mal Dreck fressen müssen, in permanenter Gefahr leben, in ausweglosen Situationen cool bleiben und mit Doppelagenten immer so ihre liebe Not haben. Aber wenn es hart auf hart kommt, kann man sich jederzeit auf die Jungs in der Zentrale verlassen, die den Einsatz leiten. Doch spätestens mit dem Film „Die drei Tage des Condor“ kamen mir erste Zweifel an meinem Berufswunsch. Die kongeniale Umsetzung von James Gradys Debütroman dekonstruierte mit beklemmenden Bildern die Schimäre vom sauberen Geheimdienst, der nur gegen Bedrohungen aus dem Ausland vorgeht. Hier wurden fiktiv, aber durchaus glaubwürdig, interne Machtspiele und Unterorganisationen innerhalb der CIA thematisiert und somit dessen Integrität in Frage gestellt. Es war Mitte der 1970er Jahre, und Agent Condor konnte niemanden mehr trauen. Nicht mal den Jungs in der Zentrale. Ich wurde dann erstmal kein Geheimagent. Und heute? Die Welt im 21. Jahrhundert ist traumatisiert, noch taumelnd nach 9/11. Das Zeitalter der asymmetrischen Bedrohung hat in den U.S.A. zu mehr als einem Dutzend Geheimdiensten geführt, die neben- und gegeneinander verstärkt auch im Inland agieren. Drohnen, Defacement und Datenscans sind heute wichtiger als Schleudersitze. James Grady blickt nach vierzig Jahren wieder auf seine Romanfigur Condor. Der kleine Agent von damals ist heute ein alter Mann mit vielen Pillendöschen und Erinnerungslücken. Zwischenzeitlich in der betriebseigenen CIA-Klapse ruhiggestellt, arbeitet er nun in der Kongressbücherei in Washington. Immer unter Beobachtung, muss er regelmäßig buchstäblich die Hosen runterlassen und wird von der Homeland Security schikaniert. Verfolgungsangst bestimmt sein Leben. Als dann eines Tages ein toter CIA-Agent über seinem Kamin hängt, weiss er, wie berechtigt diese Angst ist. Seine Reflexe funktionieren noch, er flieht sofort, versucht sich unsichtbar zu machen. Ist das in der digitalen Überwachungsgesellschaft überhaupt noch möglich? Klar ist: Mit dem Mord soll er selbst ans Messer geliefert werden. Um den Grund oder gar die Spur der Täter zu finden muss er sich neuen Verbündeten anvertrauen. Doch das muss er erstmal wieder lernen … Mit kurzen Stakkatosätzen, Perspektivwechseln und inneren Monologen erzeugt James Grady von den ersten Seiten an ein permanentes Gefühl von Unsicherheit und diffuser Gefahr. Condors verzweifelte Flucht nach vorn und der größer werdende Kontrollverlust seines Protagonisten wird so auch stilistisch für den Leser erfahrbar. Die Strategie der Überwachungsmatrix ist es, Desinformation innerhalb der untereinander verwobenen Geheimdienste zu verbreiten. Am Ende ist Condor der perfekte Irre in diesem Informationsirrenhaus, denn er weiß selber nicht mehr, welcher Rolle er eigentlich spielt. Wer möchte nach diesem grandiosen und bis ins Absurde überdrehten Paranoia-Spionagethriller jetzt noch Geheimagent werden? Ich nicht mehr. Oder bin ich schön längst einer und weiß es selber nicht?

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