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Joanna Bator: Dunkel, fast Nacht

Die Realität: Seit vergangenem Herbst geht die Hysterie um im polnischen Niederschlesien zwischen Worclaw (Breslau) und Walbrcych (Waldenburg), als die polnische Kulturministerin bekanntgab, dass mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein berüchtigter Goldzug der Nazis irgendwo in den bis jetzt nicht mal ansatzweise erschlossenen unterirdischen Tunneln stehe, die Hitler ab 1943 hat bauen lassen, als er in Niederschlesien eine zweite Wolfsschanze errichten wollte. Private Schatzsucher aus dem ganzen Land riskieren seitdem hohe Geldbußen und buddeln um Wette nach dem großen Reichtum, der – wenn es den Zug denn gibt – der Besitz ermordeter Juden ist. Hysterie in Polen hat viele Ausformungen, und jetzt kommen wir zum Buch, denn: Etliche von ihnen hat Joanna Bator in ihrem neuen Roman „Dunkel, fast Nacht“ untergebracht, der in Polen bereits vor vier Jahren erschienen ist.
Der auch noch im oben genannten Walbrcych spielt, wo die Schriftstellerin bis zu ihrem 18. Lebensjahr gelebt hat. Dorthin kehrt Bators Heldin Alicja Tabor zurück, eine Journalistin, die ebenfalls mit 18 den Ort verlassen hat. Jetzt recherchiert sie für eine Reportage den Fall mehrerer Kindesentführungen. Von den ersten Seiten des Romans an wird deutlich, dass die Heldin mit der Zugfahrt nach Walbrych eine Reise in die eigene Vergangenheit antritt. Mit einem Schlüssel, den sie seit dem Tod ihres Vaters vor 15 Jahren nicht mehr angerührt hat, öffnet Alicja die Tür zum Elternhaus. Viele Erinnerungen hatte sie dort zurückgelassen, jetzt muss sie sich ihnen stellen. Joanna Bator erzählt uns aber nicht nur Alicjas Geschichte. Während ein junger Sektenführer auf dem Marktplatz immer mehr Anhänger um sich schart und diese wegen der Kindesentführungen mit seinen Predigten bis zur Hysterie aufpeitscht, wird in den lokalen Internetchatforen Fremdenfeindlichkeit aller Formen einmal durch den Verschwörungsquirl gejagt. Vor dieser Kulisse beginnt Alicja mit ihrer Recherche und muss sich gleichzeitig der eigenen Kindheit stellen. Warum hat sich ihre ältere Schwester Ewa mit 17 umgebracht? Warum hat sich ihre ältere Schwester Ewa mit 17 umgebracht? Warum zieht sich ihr Vater immer häufiger aus der Familie zurück und verschwindet wie so viele andere auch in den Stollen Walbrychs, um nach einem verschwundenen Schatz zu suchen? Gemeinsam mit dem väterlichen Freund Albert Kukulka, seinem Neffen Marcin Schwartz und ihrer alten Schulfreundin, der transsexuellen Bibliothekarin Celestyna, geht sie all diesen Fragen nach. Joanna Bator ist ein sowohl bedrückendes als auch anrührendes Dokument polnischer Zeitgeschichte in Romanform gelungen. Gesellschaftliche Verwerfungen vor dem Hintergrund großer wirtschaftlicher Probleme werden verwoben mit privaten Tragödien, die bis in die 1940er-Jahre zurückreichen. Bator gelingt das fast spielend, die Rückblenden besorgt erzählend das Romanpersonal. Wo dies schon tot ist – ja, das gibt es –, tun dies wichtige Briefe. Lediglich bei der Lösung der Entführungsfälle dreht die Autorin das Rad um eine Umdrehung zu weit, zu plötzlich und zu unglaubwürdig tauchen hier Motiv und Täter auf.

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