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Joanna Rakoff: Lieber Mr. Salinger

Eigentlich brauchte Joanna, gerade Anfang zwanzig und noch voll naiver Träume, nur irgendeinen Job. Schließlich zahlt sich das Appartement, welches sie sich mit ihrem Freund teilt, einem angehenden Schriftsteller, in den sie sich gleich nach ihrer Ankunft in New York verknallt hatte, nicht von selbst. Und nichts weiter als das war die Assistentinnenstelle, die Joanna in einer Literaturagentur angeboten bekam, zunächst auch: irgendein Job. In der Agentur hängt aber nicht nur der Rauch ihrer dauerquarzenden Chefin, einer einflussreichen Agentin, sondern auch ein nostalgischer Dunst, der immer wieder eine Zeit spüren zu machen scheint, die noch weitaus länger her ist als die Mitte der 1990er – die Zeit, als die Autorin Rakoff die Erfahrungen ihrer auch namentlich beerbten Protagonistin selbst in einer eben solchen New Yorker Agentur machte. Neben dem Transkribieren von ihrer Chefin auf Band gesprochener Briefe – nicht etwa am Computer, sondern mithilfe einer gigantischen, bereits damals altertümlich wirkenden Maschine – kommt Joanna die Aufgabe zu, die Leserbriefe an den wichtigsten Klienten der Agentur, J.D. Salinger, jeweils mit einer standardisierten Replik zu bedenken.

Salinger, oder, wie er agenturintern genannt wird: Jerry, wünscht keine Zuschriften, und sein Wunsch ist heiliger Befehl. Joanna, die Salingers Werke nie gelesen hat, weiß zwar die Anspielungen nicht einzuordnen, die sich wie rote Fäden als Motive durch die Fanpost ziehen, begreift aber alsbald, welch profunden Einfluss dieser Autor ausgeübt hat: gerade Salingers Hauptwerk „Der Fänger im Roggen“ veranlasst Kriegsveteranen und verwirrte Jugendliche gleichermaßen dazu, sich in sehr persönlichen Zeilen an ihn zu wenden. So persönlich, dass Joanna nicht nur Salingers Œuvre in einem Rutsch verschlingt, sondern auch beginnt, ihre Befugnisse zu überschreiten, indem sie statt Standardantworten selbst verfasste Briefe an die Leser zurücksendet. Rakoff begleitet sich in ihrem federleichten Roman retrospektiv selbst: Sie beobachtet sich dabei, wie sie ihre Liebe zur Literatur vertieft und en passant, geradezu wie als notwendige Konsequenz, zu sich selbst findet. „Lieber Mr. Salinger“ ist eine süffig geschriebene Ode auf die Literatur und, wenn man so will, auf eine Zeit, in der Bücher noch keine Dateien auf Kindles waren. (lan)

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