Jörg Heiser: Doppelleben. Kunst und Popmusik
Wer Musikerinnen wie Björk oder Holly Herndon verstehen will, nutzt deren Alben vor allem als Ausgangspunkt für tiefergehende Auseinandersetzungen mit anderen Kunstgattungen und Wissenschaft. Die Performance-Künstlerin Marina Abramović schaute bei einer ihrer Aktionen auch schon Jay-Z tief in die Augen. Und wenn derzeit die Ausstellung „Geniale Dilletanten“ die Pop- und Protestkultur ins Museum verlagert, wundert sich über diese Kreuzung der Traditionen eigentlich niemand mehr. Doch diese Entwicklung war historisch alles andere als selbstverständlich und verlief phasenweise. Der Kulturjournalist Jörg Heiser hat sie in einer kunstgeschichtlichen Dissertation aufgearbeitet, deren Einleitung allein schon hundert Seiten einnimmt. Schon hier wird man unter anderem darüber aufgeklärt, warum ein Gattungs- nicht gleich einen Kontextwechsel bedeutet, warum Andy Warhol vor allem kokett mit letzterem operiert hat, was alles hinter der Begriffsgeschichte „Crossover“ steckt, und welche Konsequenzen die Zweigleisigkeit von Pop und Kunst generell für das Gesamtwerk von Künstlern hat. Heiser geht chronografisch vor: Er beginnt mit einer ausführlichen Übersicht zum derzeitigen Forschungsstand bei Warhol und Velvet Underground, tastet sich über das Paar John Lennon und Yoko Ono zum Ambient-Experimentator Brian Eno vor und endet mit einem inspirierenden Porträt der Elektro-Produzentin und multimedial agierenden Konzeptkünstlerin Fatima Al Qadiri, die bereits sunnitische und schiitische Gesänge ineinander mischte und mit „Brute“ gerade ein neues Album veröffentlicht hat. Diskussionswürdig scheint lediglich die Kategorie der „Künstlerischen Produktionsbeziehung“, die Heiser in seinem Kapitel über Ono und Lennon entwickelt. Ist das nicht zu paartheoretisch gedacht und vielleicht einen Hauch zu sehr an den Künstlerbiografien angelehnt, die im Output des Paars nicht einmal mehr zweitrangig sind? Und die Heisers eigener Ansatz sonst auch eher am Rande behandelt? Das tut der Lektüre allerdings kaum einen Abbruch, die ihren Gegenstand facetten- und variantenreich beleuchtet. Natürlich werden auch Theoriefelder aus Kunst und Philosophie diskutiert, und so ist ein gewisses Basiswissen zu Denkern wie Adorno zwar nicht Voraussetzung, aber schon von Vorteil. Der Leser profitiert davon, dass Jörg Heiser anscheinend selbst ein Doppelleben führt: Fachkundige und ausdifferenzierte Beobachtungen treffen hier auf einen rezensierenden, sowohl enthusiastischen als auch dichten Schreibstil voller poppiger und unterhaltsamer Wendungen. In diesem Sinne: Oszillieren und genießen!