Jon Crosby/ VAST (Visual Audio Sensory Theater)
Geschmackssicher bewegt sich der blutjunge Jon Crosby mit seinem Projekt VAST zwischen Klassik, Metal und Kirchenmusik – und bringt das Spektaktel jetzt auf deutsche Rockbühnen
Leger gekleidete Studenten prägen das Straßenbild von Cambridge. Unmittelbar vor den Toren Bostons gelegen, befinden sich dort zwei Elite-Unis der USA: Harvard und das Massachusetts Institute Of Technology. An der quirligen Hauptstraße von Cambridge steht das Middle East, ein Live-Club mit Restaurant und Kneipe. Hier begrüßt mich ein rundlicher Typ mit roten Haaren, komplett in Schwarz gekleidet, per Handschlag: Es ist Jon Crosby, der Kopf von VAST. Ohne zu zögern, ordert er zwei große Biere, sehr zur Freude des durstigen Gastes aus Deutschland.
Mehr als die Hälfte seines Lebens hat sich der 22jährige ernsthaft mit Musik befaßt: „Ich war zehn, als die Musik mich zum ersten Mal richtig packte. Ich hörte Mozart und war derart fasziniert, daß ich versuchte, diese Melodien auf Piano und Cello nachzuspielen. Von da an beschloß ich, Musiker zu werden.“ Der Film „Amadeus“ bestärkte ihn noch; der Sohn einer alleinerziehenden Mutter hatte sein Vorbild gefunden.
Danach begeisterte er sich für Gitarristen, die klassische Klänge mit Rock verschmolzen. „Ich bin ein großer Fan von Melodien, von Akkordfolgen und Kontrapunkt. Mein Interesse an der Show ist gering, bei mir steht die Musik im Mittelpunkt.“ Das ambitionierte Kind wuchs im ländlichen Humboldt County in Kalifornien auf, einem Dorf mit 7 000 Seelen, in dem seine Ma ein Buch-, Platten und Fotogeschäft betrieb. Fühlte sich der musisch begabte Teenager als Wunderkind? „Na ja, jedes Kind entwickelt ein starkes Selbstbewußtsein, wenn seine Eltern es ermutigen. Als Wunderkind habe ich mich nicht gesehen, aber ich habe schon früh geglaubt, ich könnte das Gleiche wie andere erreichen.“
Jon lernte Klavier, Cello, Gitarre, Bass, Geige und Schlagzeug – Fertigkeiten, die ihm beim Aufnehmen seines Debütalbums zugute kommen sollten. „Ich konnte leider keine Musiker finden, die Interesse an dieser Richtung hatten. Alle mochten nur Punk, Ska und Metal – so mußte ich eben das Meiste allein machen.“ Seine CD „VAST“ verbindet Klassik, Rock, Metal, Electronica, Gothic und sogar Kirchenmusik. Gewaltige Orgeln erschallen in seinem Monumentalwerk ebenso wie eindrucksvolle Mönchs-Chöre und Samples des einmaligen Frauenchores Le Mystère des Voix Bulgares.
Was hat sein Interesse an sakraler Musik geweckt? „Ich bin nicht religiös erzogen worden. Doch vor ein paar Jahren öffnete ich mich, las die Bibel und seither glaube ich an Gott. Das heißt nicht, daß ich die Doppelzüngigkeit organisierter Religion übersehen würde“, setzt er einschränkend hinzu. „Als ich kürzlich das Metropolitan Museum von New York besuchte, war ich erstaunt, daß die gesamte Kunst auf Religion basierte. Einige Leute mögen denken, das sei nur ein aktueller Modetrend, doch in Wahrheit ist Religion eine zeitlose Inspirationsquelle.“ Sein Albumtitel „VAST“ steht für „Visual Audio Sensory Theater“. Das bedeute nicht, daß er sich selbst für „vast“, also riesig hält, damit meint er vielmehr das Leben auf dieser Welt – und nicht zuletzt die klassischen Komponisten. „Die klassische Musik übertrifft die Bedeutung von Worten. Man sagt, ein Bild erzählt mehr als tausend Worte, das denke ich über diese Musik. Ich kann mir ein Lied anhören, das zweihundert Jahre alt ist und ich höre die Gefühle, die der Komponist mir mitteilen wollte, über diesen gewaltigen Zeitraum und die Sprachbarriere hinweg. Die Melodien bewegen dich einfach.“
Jon Crosby entspricht nicht dem Klischee, das viele Europäer von den angeblich oberflächlichen Amerikanern haben. Mit gleicher Ernsthaftigkeit widmet er sich sowohl der europäischen Kunst als auch den Rock-Klängen Metallicas. Von Großspurigkeit keine Spur, im Gegenteil: Das sympathische Multi-Talent kennt seine Grenzen: „Meine Texte schreibe ich über persönliche Erfahrungen – wie die Suche nach meiner Seele. Mir ist klar, daß ich nur geringe Lebenserfahrung habe.“
Henning Richter