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Joshua Ferris: Mein fremdes Leben

Zahnärzte sollen bekanntermaßen zu Depressionen neigen. Dabei ist der Job von Joshua Ferris’ Protagonist so ziemlich das einzige, was er nicht anzweifelt. Dr. Paul O’Rourke ist die Art zerrütteter Prototyp, den nur der Scheuklappenkarrierismus zur Nachahmung empfiehlt: Seine Zahnarztpraxis in der Manhattan Avenue läuft, gut sogar, er ist ein Könner auf seinem Fachgebiet, genießt das Vertrauen der Patienten und die fachliche Anerkennung seiner Mitarbeiter. Darüber hinaus ist der schlafgestörte Baseballfanatiker zuvorderst eines: einsam. Als ein Fremder in seinem Namen das Internet mit religiös-verschwörerischen Nachrichten füllt, die den echten O’Rourke als Mitglied einer von der Geschichte verschwiegenen Glaubensdiaspora outen, ist Empörung lediglich seine erste Reaktion. Schließlich bietet dem Versprechen des Kollektivs – so krude dieses auch hergeleitet sein mag – nichts einen fruchtbareren Boden als soziale und/oder ideologische Isolation.

Eben jenen identitätsbezogenen Wankelmut weiß der US-amerikanische Autor Joshua Ferris meisterlich und beklemmend auszustellen. Mit seinem von äußeren Dia- und inneren Monologen getragener Roman „Mein fremdes Leben“ philosophiert Ferris über die Wirkmacht des Gemeinschaftsgedanken, ohne ein Urteil über Sinn und Unsinn von Religion zu fällen – sei es hinlänglich bekannter sowie unbekannter Konfessionen oder einer ideologisch aufgeladenen Begeisterung für Sportmannschaften. „Mein fremdes Leben“ ist mahnend und entlarvend, denn, das muss man eingestehen, so sonderlich der Zahnarzt, Skeptiker und Zyniker Paul O’Rourke zunächst anmuten mag: ein untypischer Vertreter unserer Zeit ist er nicht. (lan)

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