Juan Gabriel Vásquez: Das Geräusch der Dinge beim Fallen
Wenn ein Nilpferd aus dem Zoo des einstigen Kartellchefs und Staatsfeindes Pablo Escobar entflieht, ist das für Bogotás Lokalmedien Anlass zu ausschweifender Berichterstattung – und für den Juraprofessor Antonio Yammara der assoziative Zündfunke, der einen ganzen Schwall von Erinnerungen auslöst. Erinnerungen an eine Zeit, die das Leben eines jeden nachhaltig prägen sollte, der die 1990er-Jahre in der kolumbianischen Hauptstadt zugebracht hat. Auf dem Höhepunkt des Krieges – eine in diesem Fall keineswegs reißerische, sondern tragisch adäquate Bezeichnung – zwischen organisiertem Drogenhandel und Staatsgewalt heben Gewaltverbrechen Bogotás Ordnung aus den Angeln; zwischen Bombenexplosionen und Drive-by-Shootings schwindet das Gefühl von Sicherheit.
Eines Tages wird Ricardo Laverde, ein neuer Bekannter Antonios, auf offener Straße erschossen. Auch Antonio gerät in die Schusslinie – und sein Leben in der Folge aus den Fugen. Angstzustände, Paranoia und Schlaflosigkeit werden zu den Symptomen eines Lebens, das so nicht zu ertragen ist: in Angst um sich, Sorge um andere und quälender Ungewissheit ob der Dinge, die sich zugetragen haben. Als Antonio die Chance erhält, Informationen über die Vergangenheit des Ermordeten und so womöglich über die Umstände seines Todes zu erfahren, ergreift er sie mit beiden Händen. Mithilfe von unerwartet auftauchenden Dokumenten und Personen taucht er tief ein: in die Geschichte eines Mannes, die vor mehreren Generationen begann und zugleich Teil der Geschichte Kolumbiens ist.
Erzählungen vom Beginn der Industrialisierung des Drogenhandels gibt es viele, sei es als Bewegtbild oder Buch, mit unterhaltendem oder dokumentarischem Anspruch – die Eindringlich- und Feinfühligkeit, mit der Vásquez seine vorträgt, sucht ihresgleichen. Aus biografischen Aufzeichnungen, Briefen und der Erinnerung einer noch Lebenden lässt der selbst in Bogotá geborene Autor die Chronik einer Familie – oder besser: die zweier Familien – emporsteigen. Ohne dass Vásquez den Drogenhandel dabei je zum vordergründigen Sujet macht, zeigt er dessen Anwesenheit. Er spart sich Dämonisierung und Ikonisierung gleichermaßen, lässt Umstände und Auswirkungen aus dem Erzählten hervorgehen.
Anteilig ist „Das Geräusch der Dinge beim Fallen“ Familienroman und Abriss der jüngeren Geschichte Kolumbiens, und es ist umweht von dem Gefühl, in welchem die Menschen einer Ära verbunden waren, ob sie es wussten oder nicht. Vásquez’ Sprache scheint eine eigene Melodie zu besitzen, ihre Bedeutsamkeit ist eine beinahe beiläufige, die nachwirkt – unmittelbar ergriffen ist man hingegen von ihrer Schönheit. Nachdem der Roman also bereits in der Originalfassung sowie der englischen Übersetzung mit hochrenommierten Preisen ausgezeichnet wurde, lässt sich zufrieden, ja vielmehr begeistert festellen, dass „Das Geräusch der Dinge beim Fallen“ auch in deutscher Übersetzung ein meisterlicher Roman ist, der voller Schrecken, Sehnsucht und Schönheit steckt. (lan)