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Hundstage

Julien Baker
(Foto: Alysse Gafkjen)

Julien Baker hat heftige Jahre hinter sich. Auf ihrem neuen Album „Little Oblivions“ schont die Musikerin aus Tennessee weder sich noch ihre Zuhörer*innen.

Dass Julien Baker einmal das Haus mit einem Vierbeiner teilen würde, hätte sie sich bis vor einem Jahr auch nicht vorstellen können. „Ich war nie wirklich der Tier-Typ“, sagt die 25 Jahre alte Indie-Musikerin, die längst zu den qualitativ führenden Kräften ihres Fachs gehört. Doch dann kreuzten sich unverhofft die Wege von Baker und diesem etwas seltsam ausschauenden, damals halbverhungerten, schwarz-weiß-gescheckten, schlappohrigen Mischlingsetwas – und die Situation änderte sich schlagartig.

„Das Leben ist unberechenbar. Du kannst gestern denken, dass du es auf keinen Fall schaffst, dich noch um ein anderes Lebewesen außer dir selbst zu kümmern. Und heute liebst du dieses Tier bedingungslos.“ Beans heißt der Hund, und man liegt nicht völlig falsch, wenn man unterstellt, dass sich die beiden gegenseitig gerettet haben, dass Beans also so etwas wie Bakers Gefühlshaushaltsgleichgewichtstier ist. Zumal in diesem Jahr der pandemischen Einsamkeit, die für die Songschreiberin unterm Strich aber gar nicht so übel gewesen ist.

„Ich konnte die Dinge ohne schlechtes Gewissen langsamer angehen lassen: mal ein Schwätzchen mit den Nachbarn halten, regelmäßig das Baby einer engen Freundin besuchen, Zeit mit Beans verbringen. Die Tage hatten zumeist eine klare, gesunde Struktur, einen festen Rahmen.“ Stabilität ist für Bakers Gesundheit extrem wichtig gewesen. Denn der Weg, der die junge, offen queere Frau aus Tennessee letztlich zu ihrem dritten Album „Little Oblivions“ geführt hat, war alles andere als unholprig.

Julien Baker: Anfänge mit Green Day und Fall Out Boy

Julien Baker gehört zu den Menschen, die sich das Leben selbst schwer machen, ohne offensichtliche Gründe dafür zu haben. Als Mädchen schnappt sie sich die Gitarre ihres Vaters und gibt sie nie wieder her. Bis zum Umfallen spielt sie die Punkpopsongs von Green Day und Fall Out Boy nach. Als Teenager veröffentlicht sie mit ihrer Band The Star Killers ein Album, danach folgen die zwei überall hochgelobten Soloplatten „Sprained Ankle“ (2015) und „Turn out The Lights“ (2017). Trotzdem tendiert sie dazu, sich selbst auf ungesunde Weise runterzumachen. „Mein Belohnungssystem funktioniert nicht. Ich setze mir Ziele, erreiche sie, und halte mich trotzdem für eine Versagerin.“

Natürlich geht sie regelmäßig zur Therapie. Doch nach der letzten, mit kleineren Unterbrechungen praktisch drei Jahre am Stück dauernden Tour, während der sie im Jahr 2018 auch noch die tolle Boygenius-EP mit den Kolleginnen Phoebe Bridgers und Lucy Dacus aufgenommen hat, war Baker platt. Spätestens als sie nach mehrjähriger Abstinenz wieder mit dem Trinken anfängt – was sie auch in dem neuen Song „Hardline“ thematisiert und dabei hemmungslos mit sich selbst ins Gericht geht – ist klar, dass sie gegensteuern und normaler leben muss, um ihre Defizite in Sachen Selbstwertgefühl auszugleichen.

Zurück an die Uni

„Ich habe die Tour kurz vor Schluss abgebrochen und bin wieder zur Uni gegangen, um mein 2016 unterbrochenes Studium abzuschließen. Das war herrlich. Die meisten der anderen Student*innen kannten mich gar nicht als Musikerin – oder es war ihnen egal.“ Baker absolviert ihr letztes Semester – Hauptfach Toningenieurswesen, Nebenfächer Englisch und Kunst – an der Middle Tennessee State University in Murfreesboro bei Nashville und denkt nun, derzeit noch ergebnisoffen, über ein Master-Studium nach.

Und auch der Beruf macht jetzt wieder Freude. Auf „Little Oblivions“ tobt sie sich nachhaltig aus: Bis auf ganz wenige Ausnahmen hat sie sämtliche Instrumente auf dem Album selbst eingespielt, und entsprechend knallt das Album auch rein. Baker hat ihre bislang eher zurückhaltenden und nicht sehr lauten Indiepopkompositionen ordentlich angedickt. Schlagzeug, Bass, Synthesizer, Mandoline und manches Instrument mehr ergeben etwa bei Songs wie „Faith Healer“ einen kräftigen, dynamischen und dunkel klingenden Bandsound.

Die Texte freilich gehen nicht bloß ans Eingemachte, sondern auch verdammt tief. Wären sie Wunden, müssten sie mit einer Drainage behandelt werden, um zu heilen. Blut, Abstürze und guter wie auch toxischer Sex: Bakers Songs sind an Schonungslosigkeit kaum zu übertreffen. Und die Künstlerin selbst? „Ich bin derzeit ganz gut in der Balance“ sagt sie. Ja, Julien Baker denkt sogar ernsthaft über die Anschaffung eines zweiten Vierbeiners nach.

Little Oblivions ist gerade erschienen.

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