„Kinos am Rande des Nervenzusammenbruchs“
Zum Beginn des zweiten Lockdowns äußert sich der Geschäftsführer der Cineplex-Gruppe, Kim Ludolf Koch, zur aktuellen Lage der Kinos – und der Unterstützung durch Bund und Länder.
„Rekordumsätze vermelden Amazon, Apple, Facebook, Netflix und alle anderen, die den risikolosen Kontakt zur Unterhaltung, zu Freunden, zur Warenwelt und vielem mehr sicherstellen. In einem richtigen Drehbuch aus Hollywood würde man die Verursacher einer Pandemie in jedem Fall bei den Profiteuren suchen. So weit möchte man nicht gehen, aber in Trauer hüllen sich diese Unternehmen nicht. Ganz im Gegenteil: gerade eben haben sich Einige noch einmal eine Bieterschlacht um das größte Nugget des Jahres, den 25. Bond, geliefert, um ihn auf ihren eigenen Plattformen auszuwerten, statt dort wo er hingehört: ins Kino. Geplant war der Bond nach seiner dritten Verschiebung für den November …
Dass nun das gesamte Kulturangebot schließen muss, wirft nicht nur ein ungutes Licht auf die eigenwillige Interpretation der Politik, welche Werte den Museen, Theatern und nicht zuletzt Kinos beigemessen werden. Sondern es ignoriert mit Vorsatz, dass diese nun verbotenen „Vergnügungen“ gar keinen Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie leisten. Denn wer im offenen Zustand keine Gefährdung darstellt, tut dies natürlich auch nicht während der Schließung. Es wäre billig, auf die nicht durch Schließung beeinträchtigten Wirtschaftszweige zu zeigen, aber der Hinweis, dass weltweit noch kein Infektionsvorfall in einem Kino nachgewiesen wurde, sei doch erlaubt. Und der Mensch braucht ein Ventil für kulturelle und soziale Bedürfnisbefriedigung. Dass er diese nun nicht im sicheren Hafen der Kinos oder Museen erfüllen kann, sondern stattdessen in keineswegs risikoarme Einkaufscenter, Kirchen und vielleicht sogar in illegale Angebote gedrängt wird, schadet allen umso mehr.
Lenken wir den Blick auf die finanziellen Auswirkungen der Novemberschließung, die deutlich dramatischer ausfallen als beispielsweise die Schließungsmonate im Frühjahr. Denn zum einen geht der Patient Kino mit einer massiven wirtschaftlichen Vorerkrankung in die erneute Isolation, zum anderen ist der November gemeinsam mit den zwei Folgemonaten der wichtigste Umsatzbringer des Jahres. Es fehlen also nicht nur die Umsätze zur Deckung der aktuell anfallenden fixen Kosten, sondern auch die Überschüsse, mit denen man in normalen Jahren die Verluste aus den besucherschwachen Sommermonaten ausgleicht.
Um das Ausmaß des Problems etwas besser zu verstehen, sind ein paar Zahlen und Fakten hilfreich. Im Durchschnitt erzeugt jeder deutsche Kinobesucher einen Umsatz von ca. 12,25 Euro (netto). Davon entfallen 8,20 Euro auf das Ticket, 3,50 Euro auf Süßwaren und Getränke und ca. 0,55 Euro auf Werbung und sonstige Einnahmen. Zieht man die Filmmiete (50 %) und Wareneinsatz (30 %) ab, bleiben rund 7,35 Euro an Deckungsbeitrag übrig, also der Betrag, mit dem der gesamte Apparat bezahlt werden muss. Mieten, Technikkosten, Personal, Versicherungen, Reinigung, Energie, Marketing, Verwaltung, Rücklagen für Investitionen etc. belaufen sich auf durchschnittlich 6,80 Euro Fixkosten pro Besucher. Das Kennzeichen von Fixkosten ist aber, dass sie grundsätzlich auch dann anfallen, wenn keine Besucher gemacht werden. Ist das Publikum planbar nicht zu erwarten – wie bei einem Lockdown –, sind die Kosten durch Einsparung, Verhandlung und vielleicht auch staatlichen Unterstützungen reduzierbar. Aufgrund des hohen Anteils der Infrastrukturkosten (Gebäude, Ausstattung, Technik etc.) sind 30 Prozent die Obergrenze. Mit anderen Worten: In der Zeit geschlossener Kinos fehlen rund immer noch mindestens 4,62 Euro pro Besucher.
Januar und Februar verliefen im Jahr 2020 ordentlich und auf dem Niveau von 2019. Der März war schon von starken Besucherrückgängen gekennzeichnet bis dann in der Monatsmitte alle Bundesländer die Schließung anordneten. Bis zu diesem Zeitpunkt waren rund 25 Millionen Besucher in deutschen Kinos. Das Jahr 2019 hat mit knapp 120 Millionen Besuchern ein leicht unterdurchschnittliches Niveau gehabt. Die Zeit der Schließung wurde genutzt, intelligente Hygienekonzepte zu entwickeln und auch eine Untersuchung in Auftrag zu geben, die die Aerosolbelastung in Filmtheatern mit denen im Büro vergleicht. Ergebnis: Die Aerosol-Belastung im Kino ist minimal und damit natürlich auch die Infektionsgefahr. In der Tat hat es weder in Deutschland noch weltweit eine nachgewiesene Ansteckung im Kino gegeben.
Kommen wir noch einmal zurück zu dem Verschwörungsdrehbuch: Sicherlich nicht mit Vorsatz, aber doch mindestens mit grober Fahrlässigkeit hat der amerikanische Präsident Donald Trump seinen Beitrag dazu geleistet, dass die Pandemie in Amerika ein Ausmaß annahm, dass auch dort über lange Zeit die Kinos – zum Teil bis heute – geschlossen sind. Da liegt es nahe, dass die internationalen, überwiegend aus Hollywood stammenden Produktionen, auch nicht den Weg in die Länder finden, die glimpflicher durch die Krise gekommen sind.
Neben dem Fehlen der US Blockbuster hat auch die föderale Kompetenz der Bundesländer zur Krise beigetragen. Die Eröffnung, für die die gesamte Branche um einen einheitlichen Termin bat, zog sich fast acht Wochen hin, mit der Folge, dass auch deutsche Filme erst Mitte Juli wieder in die Kinos kamen. Man konnte am Ende eine relativ einfache Regel formulieren: Ist ein Film für einen bestimmten Markt gemacht, kommt der erst dann in die Kinos, wenn dieser Markt die Kapazitäten zur Verfügung stellt. Das kann die ganze Welt, Europa, Deutschland und im Falle der Eberhofer-Filme auch ein einzelnes Bundesland sein. Ist diese Nachfrage durch Schließungsanordnung nicht aktivierbar, fehlt das Produkt. Und Kinos reagieren besonders empfindlich auf Probleme in der Content-Lieferkette.
Das oben beschriebene Auswertungsdilemma war Auslöser und Folge zugleich für Filmverschiebungen ins kommende Jahr oder, was noch schlimmer ist, eine Auswertung auf Streaming-Plattformen. So kam es dann, dass seit der Wiedereröffnung der Kinos im Frühsommer bis zur erneuten Schließung Anfang November nur rund 10 Millionen Besucher in die Kinos kamen. Der üblicherweise sehr starke November fällt gänzlich flach und hat zur Folge, dass im Dezember wieder bei null angefangen werden muss und bestenfalls ein Viertel des normalen Besuchs hervorbringt. So werden wir das Jahr mit weniger als 40 Millionen Besuchern beschließen. Gegenüber 2019 fehlen uns damit 80 Millionen Besucher und rund eine Milliarde Euro Umsatz. Der Schaden, der durch nicht gedeckte Fixkosten entsteht, liegt bei 450 bis 500 Mio. Euro.
Es bleibt zu hoffen, dass die nunmehr angekündigten Unterstützungsmaßnahmen, die zwar nur einen Bruchteil des entstandenen Schadens decken können, umgesetzt werden, um der Branche durch Liquiditätshilfen das Überleben zu sichern. In der Tat sind die Filmtheater ein systemrelevanter Teil der Kulturwirtschaft im Allgemeinen und der Filmwirtschaft im speziellen. Ein breites Kinosterben würde in vielen Kommunen eine kulturelle Verödung provozieren und auch die Lebensqualität deutlich verändern. Denn Kinos sind nicht nur Kulturlieferanten sondern auch Frequenzbringer für Innenstädte, Gastronomie und Handel.
Vielleicht wird der Corona-Streaming-Verschwörungsplot doch irgendwann einmal verfilmt und kommt dann hoffentlich noch ins Kino!“
Kim Ludolf Koch