„Juli, August, September“ von Olga Grjasnowa: „Warum gefällt mir das?“
Im September nimmt sich der kulturnews-Leseklub Olga Grjasnowas neuen Roman „Juli, August, September“ vor.
„Juli, August, September“: Inhaltsangabe
Lous zweiter Ehemann ist eine Trophäe – das muss selbst ihre Mutter anerkennen. Sergej ist Pianist und er ist jüdisch, genau wie Lou. Trotzdem ist ihre Tochter Rosa noch nie in einer Synagoge gewesen – eine ganz normale jüdische Familie in Berlin. Aber sind sie noch eine Familie, und was ist das überhaupt? Um das herauszufinden, folgt Lou der Einladung zum 90. Geburtstag ihrer Tante. In einem abgehalfterten Resort auf Gran Canaria trifft der ganze ex-sowjetische Clan aus Israel zusammen, verbunden nur noch durch wechselseitige Missgunst. Gegen die kleinen Bösartigkeiten und die vage Leere in sich trinkt Lou systematisch an und weiß plötzlich, dass die Antwort auf all ihre Fragen in der glühenden Hitze Tel Avivs zu finden ist.
Das sagt der kulturnews-Leseklub zu Olga Grjasnowas neuem Roman
Heike: Ich bin durch den Juli durch und habe brav aufgehört, da ich erst einmal Eure Eindrücke abwarten möchte, bevor ich mich in den August vertiefe.
Ehrlicherweise weiß ich noch nicht, was ich von dem Text halten soll. Eine junge Frau mit Kind und Mann, die zwar einen Ehevertrag unterschrieben hat, aber augenscheinlich – trotz schöpferischer Pause – nicht an Geldnot leidet. Denn man hat eine Haushaltshilfe (die ich ihr gönne, ich hasse Hausarbeit …) und fährt nicht etwas Öffis, sondern Uber. Versteht mich nicht falsch, ich habe keine Geldsorgen und bin deshalb ganz bestimmt nicht neidisch (okay, auf die Haushaltshilfe schon – ich finde leider keine …), aber dieser nörgelige Unterton ist mir suspekt.
Was mich jedoch sehr amüsiert hat, ist das schwierige Verhältnis zur Schwiegermutter. Hach, wenn gedacht wird, dass der eigene Sprössling sein Leben an ein unwertes Wesen verschwendet, das ist schon nicht einfach – und kommt in vielen und nicht nur den besten Familien vor. Aber glücklicherweise hält ja der Mann zur Frau und nicht zur Mutter.
Die Parallelen der Hauptperson zur Autorin sind gegeben und ich frage mich, ob Olga ebenfalls so schlecht gelaunt ist und anderen Menschen die Schuld an der eigenen … tja … was eigentlich? Fehlenden Struktur gibt?
Aber – und das finde ich nach diesem Monat erstaunlich – obwohl nicht viel passiert außer „Szenen einer Ehe“ und ein bisschen Kultur am Abend, bin ich schnell am Ende des Leseabschnitts angelangt. Das Buch muss mir also gefallen haben, – im August bekomme ich bestimmt heraus, warum.
Carsten: Ich habe das „Juli“-Kapitel auch in einem Rutsch gelesen, und es spricht für Grjasnowa, dass mir erst im Nachhinein so richtig aufgegangen ist, wie kompakt der Text mit all den Informationen zu Ludmillas Familiengeschichte eigentlich ist.
Habe während der Lektüre einige Begriffe zum jüdischen Leben nachschlagen müssen, Canukka etwa oder die Verwendung von „Baruch HaSchem“, was dann ja auch für die Art der Sprachlosigkeit zwischen Lou und Sergej nicht ganz unwichtig ist.
Finde, mit der Art und Weise, wie sie nach und nach Informationen preisgibt, hat sie den atemlosen „Juli“-Abschnitt toll gebaut. Es gibt tolle Szenen, etwa der verletzte Knöchel wegen Stolperstein und Friedhofskerze, kleine Sätze, wie viel Bedeutung in sich tragen. Mag ihren Humor, auch wenn Ludmillas Schwiegermutter und auch Sergejs Agentin arg stereotyp dargestellt sind und ich etwa die Vernissage-Szene zu überzeichnet finde.
Mag auch das Spiel mit autobiografischen Bezügen und bin gespannt, wie es mit Ludmillas Identitätssuche auf Gran Canaria weitergeht.
Heike: Meine Schwiegermutter zeigt einige der Züge (oder besser zeigte, – sie wird altersmilde), deshalb fühlte ich mich an dieser Stelle so zu Hause. Zum verletzten Knöchel: Ja, den Grund dafür fand ich auch boshaft witzig. Ein Stolperstein, der zum Stolpern bringt. Was danach passierte, war jedoch unglaubwürdig. Wenn der Knöchel so wie beschrieben reagiert hat, sind das Schmerzen, die einen garantiert vom Tanzen abhalten, und zwar für geraume Zeit. An solchen Stellen bin ich wahrscheinlich zu sehr Korinthenkacker, aber mich nervt es auch im wirklichen Leben, wenn ein Vorgang erst hochgejazzt wird, um dann unter „geht scho“ abgebügelt zu werden.
Dennoch: Einfallsreich und gut geschrieben, sonst säße ich immer noch am Anfang …
Kristin: Ich werde lieber auch heute schon ein paar Kommentare los, weil ich am Wochenende sicher nicht dazu kommen werde mit zwei Kindern in Rosas Alter, die zwar gerne schon bei Freund:innen übernachten und noch nicht zur musikalischen Früherziehung müssen, aber ungemein weniger pflegeleicht sind. Ich musste dann auch über manche Stellen in dem Buch, in denen die Welt der Berliner Supereltern, bei denen die Kinder früh gefördert werden müssen, kaum fernsehen und stundenlang vorgelesen bekommen, beschrieben wird, lächeln. Vielleicht bin ich aber auch nur neidisch, dass mir selbst manchmal die Zeit und die Nerven dafür fehlen.
Mir geht es ein wenig wie Heike und ich weiß nicht so recht, was ich von der Protagonistin halten soll. Einerseits kommt mir die Welt, in der sie lebt, einigermaßen vertraut vor (auch ich bin vor langer Zeit nach Berlin gezogen und habe dort meine Kinder bekommen), andererseits scheint mir diese bildungsbürgerliche Berliner Künstlerszene voller Widersprüche zu sein. Welche Rolle spielt denn z. B. der Vater in Rosas Welt? Zeit hat er jedenfalls keine für sie.
Was verbindet dieses Paar, außer ein Teil seiner Familiengeschichte, der auch nicht ausreichend verbindend zu sein scheint? Lous Art, die eigene Identitätssuche auf ihre Tochter zu projizieren, finde ich manchmal etwas anstrengend. Aber nun krittel ich sehr an der Hauptfigur herum. Insgesamt finde ich die durch sie gestellte Frage sehr interessant, wie nun eigentlich die eigene Identität (und die der Kinder) in der heutigen Zeit zu konstruieren ist und welche Rolle die Familiengeschichte und die Religion als Familienerbe dabei noch spielen kann/darf/muss.
Was sollte eurer Meinung nach die Episode mit dem Apfel bedeuten, die Lou auf der Vernissage von der Kunstsammlerin bekommt? Soll sie auf den weiteren Verlauf ihrer Identitätssuche verweisen? Es ist ja nicht wirklich so, dass Lou aus dem Paradies verwiesen werden müsste, also vielleicht ist doch etwas dran an dem Grimmschen Märchen, in dem am Ende alles gut ausgeht. Und schließlich beißt sowieso nicht Lou, sondern die Künstlerin in den Apfel. Wird Lou es schaffen, sich am Ende von ihren Schuldkomplexen zu befreien? Ich bin gespannt.
Ich freue mich auf eure Gedanken zum „Juli“ und lege das Buch nun erst einmal bis nächste Woche aus der Hand.
Carsten: Stimmt, Heike, das mit dem verletzten Knöchel war mir auch aufgefallen. Es ist ein subjektives Ding, aber in Texten bin ich da viel toleranter als bei Filmen. Grjasnowa erwähnt den schmerzenden Knöchel aber noch ein- oder zweimal kurz, und zumindest tanzt Lou im Club ja nicht.
Das Apfel-Motiv erschließt sich mir auch nicht richtig. Die Sammlerin gibt ihr den Apfel, nachdem sie Lou vom Aufwachsen mit der Großmutter erzählt. „Meine Großmutter war in den Lagern. Ich habe mit ihr in Brooklyn gelebt, in einem Haus, wo es keine Gegenwart gab, sondern nur die Vergangenheit. Sie ist für immer in diesem Lager geblieben, während meine Mutter jede Gelegenheit ergriffen hat, ihr und mir zu entkommen.“ Und genau, am Ende beißt die Künstlerin auf der Clubtanzfläche in den Apfel, nachdem sie Lou geküsst hat. Ich denke auch, dass es vielleicht bei der Familienzusammenkunft auf Gran Canaria klarer wird. Lou hat ihre Tochter nach der Urgroßmutter, einer Holocaustüberlebenden, benannt, doch sie sieht einen Unterschied zu den anderen Familienmitgliedern, die in Russland ihre jüdische Identität gefunden hätten …
Bemerke mit ein paar Tagen Abstand auch, dass ich mich sehr stark an Sergej abarbeite. Lou zeichnet ihn mit sehr warmen und verständnisvollen Worten, sodass er mir ans Herz gewachsen ist. Tatsächlich sind da aber auch die harten Brüche, etwa der Satz „Manchmal kam es mir so vor, als hasste ich meinen Mann …“, der es ja auch auf den Buchrücken geschafft hat. Dieses Spannungsfeld finde ich bei Lou als Erzählerin extrem spannend, gerade weil die egomane Seite Sergejs nicht so richtig zu mir durchgedrungen ist …
Bin am Anfang über das Wort „Schickse“ gestolpert, mit dem Lou sich selbst beschreibt: „Doch Sergej hatte sich in mich verliebt. Vielleicht lag es daran, dass ich wie eine Schickse aussah, aber keine war.“
Bin nicht so ganz sicher, wie Lou das Wort „Schickse“ definiert.
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