Max Richter: Voices
Für „Sleep“ hat Max Richter sich einst achteinhalb Stunden gegönnt. Jetzt legt der Komponist mit „Voices“ ein neues Mammutwerk vor.
Max, du schreibst die Musik für Hollywoodfilme wie „Waltz with Bashir“ oder „Ad Astra“, komponierst aber auch zu Bildern, die nur in deinem Kopf existieren, wie jetzt auf dem Album „Voices“. Was macht mehr Spaß?
Max Richter: Beides macht großen Spaß, nur auf sehr unterschiedliche Weise. Für das Kino oder das Fernsehen arbeitest du als Teil einer größeren Erzählung, das funktioniert eher so, als ob man gemeinsam ein kniffliges Puzzle löst. Bei meinen eigenen Arbeiten schreibe ich einfach, was ich schreiben will, ohne jegliche Grenzen.
Deine Aufnahme „Sleep“ aus dem Jahr 2015 dauert beispielsweise achteinhalb Stunden.
Richter: (lacht) Das passiert, wenn du keine Limits einhalten magst. „Sleep“ entstand aus der Erkenntnis heraus, dass es sehr selten ist, so supergut zu schlafen, wie ich es tue. Zu der Zeit fingen die Leute auch an, das Internet immerzu bei sich zu tragen – was ich toll finde, aber auch sehr fordernd. „Sleep“ ist mein Angebot, sich abzukoppeln und auszuschalten.
Sind Zuschreibungen wie „zeitgenössische Klassik“ oder „Ambientpop-Klassik“ für dich von Relevanz?
Richter: Nein. Ich finde, diese akademische Diskussion hinkt dem Material hinterher. Spätestens seit Streaming so dominant geworden ist, gibt es keine Genres mehr. Musik ist wahrlich multidimensional geworden. Ich stamme aus dem Land, das „klassische Musik“ heißt, aber ich wandere auch mit Begeisterung in viele andere Länder.
Man sagt über deine Musik, sie würde mit großer Vorliebe von sehr gestressten Menschen zum Runterkommen gehört werden.
Richter: Ich kann das nicht beeinflussen. Meine Arbeit endet schließlich, sobald ich die letzten Noten geschrieben und eingespielt habe. Dennoch interessiert es mich sehr, wie die Musik in das Leben der Leute passt. Im Barock gab es sogenannte „Gebrauchsmusik“, man hörte zum Essen andere Musik als beim Arbeiten und so weiter. Mir gefällt diese Idee der zweckmäßigen Musik.
„Voices“ ist ein Mammutwerk. Die zwanzig Stücke werden eingerahmt durch Auszüge aus der 1948 von der Vollversammlung der UN verkündeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die unter anderem von Eleanor Roosevelt gesprochen werden. Was ist der Zweck dieses Albums?
Richter: „Voices“ ist eine Frage, ein „Lasst uns darüber nachdenken“, ein „Wie können wir es besser hinkriegen?“ In den westlichen Nachkriegsgesellschaften gab es einen grundsätzlichen liberalen und rechtsstaatlichen Konsens. Vor etwa zehn Jahren fing ich an, mir über dieses Album Gedanken zu machen, und den Anstoß haben mir die Enthüllungen über Menschenrechtsverletzungen gegeben, die aus Guantanamo zu uns gedrungen sind. Seitdem erodieren die Demokratien, und die Menschen brüllen sich an, anstatt sich zuzuhören und zu verhandeln. Ich finde es gerade jetzt wichtig, ein Licht auf diese Entwicklungen zu werfen.
Kann eher sanfte Musik wie deine denn das Gebaren von autoritären Machthabern einhegen?
Richter: „Voices“ ist für mich nicht sanft. Die Deklaration der Menschenrechte ist für mich nicht nur ein sehr idealistisches und ehrgeiziges, sondern auch ein provokantes und kontroverses Dokument. Ich denke, die Zukunft ist noch nicht entschieden. Wir können sie – nicht zuletzt auch mit Kultur – zum Positiven formen.