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Mercury Prize Shortlist: Das sind die 12 Alben, die die UK bewegt haben

Mercury Prize Shortlist
Die 12 Alben für die Shortlist des Mercury Prize stehen fest

Die BBC hat ihre 12 Albennominierungen für den diesjährigen Mercury Prize vorgestellt. Die renommierte Auszeichnung für in UK und Irland geborene Künstler:innen könnte in diesem Jahr u.a. an Beth Gibbons, Charli XCX oder The Last Dinner Party gehen.

Wenn die BBC Mitte des Jahres auf ihrem Radiosender 6 Music ihre Shortlist für den Mercury Prize vorstellt, hört nicht nur Großbritannien ganz genau hin. Seit 1992 existiert der Preis, der als das vielleicht größte Aushängeschild für britische Musik gilt und in der Vergangenheit bereits den Weg für so manche Künstler:innen geebnet hat, die heute weltweit bekannt sind.

Man denke da an Portishead, die mit ihrem Alltimer „Dummy“ 1994 den TripHop begründet haben, PJ Harvey, die als einzige bereits zwei Mal den Preis abgeräumt hat oder The xx und Arctic Monkeys, die mit dem Mercury Prize direkt zu Beginn ihrer großen Karrieren ausgezeichnet wurden.

Das Preisgeld ist dabei ein netter Nebenzusatz, doch viel wirkungsvoller ist das Scheinwerferlicht, das bereits ab der Nominierung, spätestens aber ab der Auszeichnung auf den Gewinner:innen liegt. Die Streamingzahlen und Plattenverkäufe gehen verlässlich hoch, die Leitartikel in den einschlägigen Magazinen sind ihnen sicher und es wird sich in eine illustre Liste an Künstler:innen eingereiht. In diesem Jahr sind mit acht nominierten Debütalben eine ganze Reihe an zukünftig prägenden Artists in der Shortlist gelandet, die mit ihren ganz unterschiedlichen Ansätzen, Musik zu machen nicht nur auf der Insel für noch viel Begeisterung sorgen werden.

Weil einige meiner bisherigen Lieblingsalben aus diesem Jahr unter den Nominierungen sind, gucke ich in diesem Jahr ganz besonders genau hin, wenn im September die Gewinner:in vorgestellt wird. Diesmal wird es allerdings wie sonst üblich keine Liveshow geben, denn die BBC hat keinen Sponsor gefunden.

Auch der genaue Termin der Preisverleihung steht noch aus. Viel Verwirrung umtreibt den Mercury Prize in diesem Jahr, doch ganz und gar nicht bei der Auswahl der 12 Alben. Die sind allesamt aus gutem Grund so weit oben gelandet und zeigen eindrucksvoll den Status Quo der momentanen UK-Musikszene auf.

Barry Can't Swim: „When will we land?“

Da ist zum Beispiel Barry Can't Swim, der das farbenfrohe Grundgefühl nicht nur mit dem Cover seines Debütalbums „When will we land?“ transportiert. Auch sein Sound bewegt sich irgendwo zwischen sommerlich-gelbwarmem EDM und tiefblau schillerndem Deep House.

Der schottische Produzent fusioniert dabei Fetzen von Afrobeats, jazzig-funkigen Bassläufen und gesampleten Soundschnipseln á la Fred again.. zu einem großen Wohlfühlklang, der wie gemacht fürs im Moment verlieren scheint. Barry kann vielleicht nicht schwimmen, sehr wohl aber zum Treibenlassen verleiten.

BERWYN: „Who am I“

Bereits 2021 ist BERWYN schon nominiert worden, damals noch für sein „Demotape“. Seitdem ist viel passiert bei dem jungen Sänger und Rapper, der in Trinidad geboren ist und erst durch eine Regeländerung des Mercury Prizes bezüglich der Herkunft der potenziellen Nominierten überhaupt für die Einreichung zugelassen wurde. Mit seinen später von Fred again.. gesampleten Satzfetzen aus „Neighbours“ habe nicht nur ich den Zugang zu ihm gefunden, auch in der breiteren Diskussion ist sein Name mit einem Mal viel öfter gefallen.

Auf „Who am I“ stellt er sich selbst die Frage, die mit seinem Debüt auf Albumlänge zumindest so weit beantwortet wird, wie eine Frage mit derartiger Tragweite eben beantwortet werden kann. Rassismuserfahrungen, Immigrationskonzepte, der Status eines Menschen ohne den richtigen Pass: jede Menge schwere Kost, die BERWYN in seinen intensiven Songs aufmacht und dabei schonungslos behandelt.

Beth Gibbons: „Lives outgrown

Mit Portishead hat Beth Gibbons bereits einmal den Mercury Prize gewonnen, nun ist sie nach weit über zehn Jahren nach dem dritten und bislang letzten Album der TripHop-Pioniere tatsächlich solo zurückgekehrt – und postwendend wieder nominiert worden. Kein Wunder, stecken doch in dem Soloausflug nicht nur mehr als zehn Jahre Rumgewerkel, sondern auch trotz Emanzipation einige noisige Bandanleihen ohne nach „Portishead IV“ zu klingen. Wie gut, dass sie zurück ist, denkt sich nicht nur die Jury des Mercury Prize.

Cat Burns: „early twenties“

Mit ihrem nur von der Gitarre begleiteten Post-Breakup-Song „go“ hat Cat Burns 2022 einen der größeren Hits der jüngeren britischen Chartsgeschichte geliefert. Doppelter Platinstatus, begünstigt durch ein riesiges TikTok-Momentum, und der Vertrag beim Majorlabel: manchmal kann alles so schnell gehen.

Aber wie so häufig bei derart viralen Erfolgen sind die Erwartungen an das darauffolgende Debütalbum unabwendbar riesig. Cat hat sich zwei Jahre Zeit gelassen, um bestmöglich zu zeigen, dass sie deutlich mehr als nur „go“ ist. Und das gelingt ihr auf „early twenties“ hervorragend: mit den bereits bewährten, reduzierten Gitarrenklängen, hier und da einer Prise Gospel und jeder Menge Gen Z-Schlagwörtern wie „People Pleaser“ oder „Healing“. Da werden auch Menschen jenseits der Anfang 20 abgeholt.

Charli xcx: „BRAT“

Kaum ein Album ist in diesem Sommer so viral gegangen wie „BRAT“. Das bewusst minimalistisch gehaltene Cover mit der noch bewussteren trashy Aufmachung ist wirklich überall zu sehen gewesen: ob in jedem dritten Instagrampost im eigenen Feed, auf zahllosen Plakaten oder sogar als Profilbild von Kamala Harris Wahlkampfaccount.

Das giftige Grün knallte wirklich egal wo man hingeblickt hat und das Beste daran: nicht nur die Marketingabteilung hat ganze Arbeit geleistet, Charli selber liefert auf ihrem sechsten Album so kohärent überdrehten Pop, dass sie den sich selbst erbauten Erwartungen spielend trotzt.

CMAT: „Crazymad, for me“

„Albums by British and Irish Artists with a UK release date between 15th July  2023 and 12th July 2024 are eligible for the Prize“, schreibt die hauseigene Website in ihrem Text für die infrage kommenden Alben des Mercury Prize. Mit CMAT ist auch der irische Part dieser Aussage erfüllt, denn die Singer-Songwriterin aus Dublin repräsentiert in diesem Jahr den Inselnachbarn – und das nicht nur aus Quotengründen.

Mit ihrem zweiten Album „Crazymad, for me“ vermischt sie Country und Pop zu einem cineastischen Werk, das eine zu Bruch gegangene Beziehung konzeptmäßig aufarbeitet. Zeitmaschinen, YouTube-Tutorials und eine mitreißende Geschichte, die problemlos auch als Theaterstück funktioniert hätte: CMAT hat ein Album geschrieben, das aus gutem Grund zu den 12 nominierten Alben gehört.

Corinne Bailey Rae: „Black Rainbows“

Bereits 2006 konnte Corinne Bailey Rae mit ihrem Debütalbum von der Spitze der Charts winken. Seitdem jagt sie so ein wenig dem anfänglichen Erfolg hinterher, doch wenn man ganz ehrlich ist: Braucht es einen erneuten Platz 1 eigentlich, wenn stattdessen auch derart interessante Musik entstehen kann? Auf „Black Rainbows“ begegnet Rae der Afroamerikanistik in Form eines Chicagoer Museums und lässt die Eindrücke und Inspirationen mit den Ausstellungsstücken Musik werden. Das lässt nicht nur tief in sie blicken, sondern auch in eine ganze Kultur.

corto.alto: „Bad with Names“

Das obligatorische Jazz-Album aus der Shortlist wird in diesem Jahr von corto.alto repräsentiert, der mit seinem Langspieler-Debüt „Bad with Names“ einen hochpolierten, beinahe opulenten Ansatz von modernem Jazz vorgelegt hat. Die Beziehung von Jazz und dem Mercury Prize ist seit jeher ja eine besondere, hat die Jury doch den Ruf, immer genau ein „token“ Jazzalbum in ihrer Nominierungsliste aufzuführen. Dabei muss sich „Bad with Names“ keinesfalls gefallen lassen, nur aus Vollständigkeitsgründen gewählt worden zu sein – zu klangvoll, zu vorwärtsgedacht ist das 12 Tracks starke Projekt des Multiinstrumentalisten aus Glasgow.

English Teacher: „This could be Texas“

Indie-Rock, Post-Punk, Alternative, Indie-Prog, Folk: es gibt kaum ein Genre, mit dem English Teacher noch nicht zu beschreiben versucht wurde. Eigentlich ist das aber auch ganz egal, denn die Band macht eh worauf sie Lust hat – außer anscheinend R&B, denn dafür habe sie trotz der Erscheinung die Stimme nicht, singt Frontsängerin Lily Fontaine auf der Leadsingle des nominierten Albums.

Und genau das beschreibt auch so ein wenig den weiteren Verlauf des mehr als gelungenen Debüts der Band aus Leeds. Tiefschürfende Thematiken wie Identität und Stereotypen treffen auf die unterschiedlichsten musiklaischen Spielarten und beweisen: es braucht weniger denn je feste Genrezuweisungen, solange das Endresultat so rund ausfällt.

Ghetts: „On Purpose, with Purpose“

Seit Mitte der 2000er ist Ghetts fester Bestandteil, wenn nicht gar mitpopularisierende Figur der britischen Grimeszene. Dem Subgenre, das verkürzt dargestellt aus Garage gemixt mit Jungle-, Dancehall- und HipHop-Elementen besteht, ist seitdem eine der wichtigsten Strömungen in UK und findet sich regelmäßig auch in den Shortlists des Mercury Prize wieder. Immer wieder hinterlässt Ghetts dabei seinen Abdruck in der Szene und findet sich nun mit seinem im Februar veröffentlichten Album „On Purpose, with Purpose“ zum zweiten Mal auf der Liste wieder, um den Grime und damit einhergehend eine ganze Kultur auch in diesem Jahr zu repräsentieren.

Nia Archives: „Silence is loud“

Wenn gerade schon die Sprache von Grime war: Jungle als einer der elementaren Bestandteile hat vor allem in den 90ern die Nation fest im Griff gehabt. Mit seinen high-pitched Breakbeats und massiven Reggaebässen waren die UK-typischen Pirate Radios voll von Shy FX oder Rebel MC.

Nia Archives hat die 90er für genau drei Monate „live“ erlebt und auch wenn Jungle als Genre und Subkultur natürlich weiter Bestand hatte, so ist sie doch eher spät dazugekommen. Macht aber überhaupt nichts, denn ihre Herangehensweise an den Sound geht weit über das eben beschriebene hinaus. Als Emotional Junglist beschreibt sie sich selbst und trifft es damit ganz gut: ihre sehnsüchtigen, sehr persönlich gehaltenen Texte verschmelzen mit euphorischem, modernem Jungle und machen ganz viel Lust auf mehr.

The Last Dinner Party: „Prelude to Ecstasy“

Ich glaube, ich habe in diesem Jahr meinen Freund:innen kein neu erschienenes Album mehr weiterempfohlen als „Prelude to Ecstasy“. Zu sehr haben mich die barocke Aufmachung und erfrischende Herangehensweise an Rock gemischt mit artpoppigen Passagen begeistert.

Dass die fünf Britinnen im Folgenden auf gefühlt jedem Festival Line-up geführt wurden und mit Kritiker:innenlob überschwemmt wurden, überraschte dann nicht mehr wirklich. Zu rund, zu ausgereift wirkt das stets über der Band schwebende eklektische Konzept, das die Nominierung für den Mercury Prize beinahe obligatorisch gemacht hat.

Wer reiht sich in die illustre Liste ein?

12 Nominierungen, 12 mehr als verdiente Alben. Auch wenn Alben wie Rachel Chinouriris „What a devastating Turn of Events“, Samphas „Lahai“ oder IDLES „TANGK“ schmerzlich in der Aufreihung vermisst werden, so lässt die Shortlist doch kaum Wünsche übrig.

Die Genrevielfalt ist bezeichnend für den Zustand der Musikindustrie im UK, die Mischung aus Debütant:innen und langjährigen, wegweisenden Figuren der britischen Musikszenen gefällt und noch mehr: der Anteil an weiblich gelesenen Artists unter den Nominierten ist deutlich über dem nur schwerfällig weichenden Standard der Branche.

Wenn es nach mir gehen würde, wer den diesjährigen Mercury Prize mit nach Hause nimmt, würden wohl Nia Archive oder The Last Dinner Party einen Platz in ihrer Vitrine freiräumen müssen. Wenn es nach den Buchmachern in England geht (ja, man kann dort wirklich auf alles wetten) dann ist es mit einer Quote von 2/1 Charli xcx, die dieses Jahr endlich ihren ersten Mercury Prize gewinnt.

Die Jury hat aber schon des Öfteren bewiesen, dass sie nicht immer mit den Favoriten der Fans und Kritiker:innen gehen und gerne mal für Überraschungen zu haben sind – siehe letztes Jahr mit dem Jazzquintett Ezra Collective. Ich bin gespannt: wann die Verleihung nun genau stattfindet und natürlich noch viel mehr darauf, wer dieses Jahr den Mercury Prize-Effekt erleben darf.

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