Michael Köhlmeier: Bruder und Schwester Lenobel
Verliebt und verschwunden
Sebastian Lukasser ist als fiktiver Schriftsteller im literarischen Universum Michael Köhlmeiers eine feste Bank. Schon 2007 im Roman „Abendland“, später in „Madalyn“ ist er Mediator zwischen den Protagonisten und den Lesern. Diesmal agiert der Schriftsteller als Teilzeitgeliebter Jetti Lenobels und gleichzeitig als Erzähler der Erlebnisse von Jettis Bruder Robert. Letzterer ist ein Schwadroneur vor dem Herrn, der ständig seine Lebensentwürfe ändert. Anlässlich einer Affäre erkennt Robert, dass er zum ersten Mal in seinem Leben wirklich verliebt ist, und erzählt seinem Freund Sebastian auf langen Spaziergängen alle Details zu seiner Krise. Dann verschwindet er eines Tages einfach.
Doch die Lebenskrise Roberts ist nur der Ausgangspunkt für all die Geschichten, die „Bruder und Schwester Lenobel“ birgt. Auch mit Jettis Leben, Wirken und ihren Liebschaften in Dublin ist der Roman noch lange nicht an seinem Limit. Michael Köhlmeier hat es mal wieder geschafft, eine ganze Familiengeschichte niederzuschreiben, ohne dass der Leser das sofort merkt. Mit jedem Kapitel erfahren wir mehr über die Lenobels, angefangen bei Jettes und Roberts Mutter Marie-Marlene Hirsch, die als jüdisches Kind über Refugee Children Movement nach England gebracht wird und so zwar der Shoah entkommt, später aber schwer depressiv wird und schließlich in der Psychiatrie endet. Märchen – sowohl Köhlmeiers als auch Roberts Steckenpferd, der von Beruf Psychoanalytiker ist – bilden eine wichtige Rahmenhandlung und sind Ausgangspunkt für den Leser, der durch Zeiten und Länder geschickt wird und beim Lesen aus Erzählpuzzleteilen nicht nur ein Gesamtbild der Familie, sondern auch des Menschseins als solchem erstellt.