Thalia Theater Hamburg: „Brüste und Eier“ untersucht das Konstrukt Familie
Die Adaption des Romans der japanischen Schriftstellerin Mieko Kawakami beschäftigt sich mit ähnlich großen Frage wie Goethe und Shakespeare. Wir sprachen mit Regisseur Christopher Rüping.
Christopher Rüping, wie schwer ist es, sich während des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine auf eine vergleichsweise leichte Sache wie eine Theaterinszenierung zu konzentrieren?
Es gibt Tage, an denen geht es besser, und andere, an denen scheint es ganz und gar unmöglich – und klappt nach einigen Anlaufschwierigkeiten dann doch ganz gut.
Hilft das Theater vielleicht sogar, mit dem Schrecklichen umzugehen? Weil es kreative Ventile bietet, auch wenn das Thema des Stückes ein ganz anderes ist?
Mir hilft es auf jeden Fall. Beziehungsweise kann ich es mir für mich persönlich gar nicht mehr anders vorstellen. Ich bin dankbar, einen Beruf zu haben, der verhältnismäßig wenig Routine mit sich bringt und viel Raum lässt zum Verarbeiten, Hinterfragen und Verzweifeln. Für mich war die künstlerische Arbeit schon immer der einzige verlässliche Weg, der Welt, in der wir leben, zu begegnen.
Was betrachten Sie als die größte Herausforderung für das Theater in diesen Zeiten, die massiv von Krieg, Corona und Klimakrise geprägt sind?
Die Krise, in die die analoge Versammlung geraten ist, überhaupt zu überleben. Corona hat uns dem physischen Beisammensein mit 1 000 fremden Menschen in einem geschlossenen Raum entwöhnt. Dabei liegt gerade in diesem Zusammensein das Wesen und der Zauber von Theater. Das Einzige, was wir dieser Entwöhnung entgegensetzen können, ist: sehr interessantes Theater zu machen. Die Frage, die sich anschließt, ist natürlich, was interessantes Theater denn eigentlich ist – und auf die wiederum gibt es keine allgemeingültige Antwort. Entscheidend scheint mir aber das Verhältnis, in das sich das Theater zur Welt setzt, in der wir leben. Eskapismus ist verlockend, aber meiner Meinung nach eine Sackgasse. Tagespolitisch aktivistisches Theater auf der anderen Seite scheint mir völlig ausgeschlossen, weil das Medium Theater dafür viel zu langsam ist. Was übrig bleibt, ist ein Graben nach den Wurzeln, ein Tauchgang ins gemeinsame Bewusstsein.
Mieko Kawakami: So gut wie Goethe und Shakespeare?
„Brüste und Eier“ ist nach dem preisgekrönten „Einfach das Ende der Welt“ das zweite Stück Ihrer Trilogie, in der Sie sich mit dem Thema Familie auseinandersetzen. Was interessiert Sie so daran?
Hinter dem Begriff „Familie“ verbergen sich Sehnsüchte, die die meisten Menschen miteinander teilen: Sicherheit, Gemeinschaft, Geborgenheit. Gleichzeitig ist die konkrete Familiengeschichte meist nicht völlig frei von Problemen, und ein wichtiger Prozess in der persönlichen Entwicklung besteht häufig darin, sich an der eigenen Herkunft abzuarbeiten. Insofern verstehe ich unter dem „Familie“ nicht nur die Benennung einer genetisch korrespondierenden Personenkonstellation, sondern auch eine Lebensaufgabe: Wen oder was zählt man zur eigenen Familie? Und was bedeutet das dann konkret? Ist „Familie“ ein Gefühl? Oder ein Regelkatalog? Oder beides? Der Begriff in den letzten 50 Jahren unter anderem durch diese Fragen ganz schön ins Wanken gekommen. Dem wollen wir mit unserer Trilogie, die übrigens keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder Endgültigkeit erhebt, nachspüren.
Und was ist die Qualität des Roman der japanischen Schriftstellerin Mieko Kawakami, dass Sie ihn unbedingt adaptieren wollten? Die Süddeutsche Zeitung nannte ihn „feministische Weltliteratur“.
Ich halte „Brüste und Eier“ für einen der großen Romane unserer Zeit. Und zwar, weil es Mieko Kawakami gelingt, in einem maximal zeitgenössischen Umfeld dem grundsätzlich Menschlichen auf die Schliche zu kommen. „Brüste und Eier“ ist Weltentwurf und Identitätssuche zugleich – ähnlich wie bei „Hamlet“ oder „Faust“ geht es um die ganz großen Fragen wie „Wer bin ich?“ und „Wer könnten wir sein?. Nur spielt „Brüste und Eier“ eben nicht auf irgendwelchen Schlössern und Auen, sondern in Zwei-Zimmer-Appartments, Krankenhauswartesälen und Karaokebars. Wobei, das stimmt gar nicht, fällt mir gerade auf: Mieko Kawakami stellt zwar ebenso große Fragen wie Goethe und Shakespeare, aber eben doch andere, zum Beispiel: Soll man Kinder kriegen? Und wenn ja, warum?
In „Brüste und Eier“ geht es um Mutter und Tochter, um Schwestern, um Schönheitsideale, Brustvergrößerungen und Pubertät, um Frauen, die sich von den ihnen zugeschriebenen Rollenmustern in der männlich dominierten Gesellschaft lösen. Sollte ein solches Stück nicht eher von einer Regisseurin inszeniert werden?
Na ja, das eine schließt das andere ja nicht aus, oder? Ich würde dem Stoff einhundert Regisseur:innen wünschen und einhundert unterschiedliche Inszenierungen, Adaptionen, Verfilmungen – haben „Faust“ und „Hamlet“ ja schließlich auch. Es ist definitiv nicht so, dass ich den Roman einer Kollegin weggeschnappt habe oder so – ich habe ihn gelesen, wollte ihn unbedingt machen, und glaube, dass ich was dazu zu sagen habe. Ob ich mich in dieser Annahme täusche oder nicht, können ja andere sage. Gleichzeitig ist natürlich genau so wahr: Ich würde mich diesem Stoff niemals stellen können ohne weibliche Expertise im Raum. Ohne die Thalia-Schauspielerinnen Maike Knirsch und Oda Thormeyer, ohne die Gastperformerinnen Saori Hala und Ann Ayano, ohne die Kostümbildnerin Lene Schwind und die anderen Beteiligten würde es nicht gehen. Muss es ja zum Glück auch nicht.
Interview: Volker Sievert
Uraufführung ist am 30. April. Weitere Aufführungen sind am 1., 13. und 14. Mai.
Hier ein Video der Litprom 2021 – Literatur der Welt, in dem sich Mieko Kawakami ausführlich zum Thema Familie und Gesellschaft und zu Rollenmustern von Frauen äußert: