„Poor Things“ – Die Bedeutsamkeit eines Frauenkörpers
Ein ehrlicher, widerstandsfähiger Kindskopf im Körper einer reifen Frau: „Poor Things" ist ein feministisches Experiment.
Eine schwangere Frau steht auf einer Brücke. Ihr dunkelblaues, hochgeschlossenes Kleid verschmilzt mit dem gleichfarbigem Himmel, der sich über ihr erstreckt. Langsam lässt sie sich in die ungewisse Tiefe fallen. Dort wird sie in die Arme eines Wissenschaftlers gespült, dessen Hände sie zurück ins Leben holen und ihr Gehirn durch das frühkindliche Gehirn ihres eigenen, ungeborenen Kindes ersetzen.
„Poor Things“ von Giorgos Lanthimos entführt uns in eine surreale Welt. Bella Baxter (Emma Stone) wird als Tochter des Wissenschaftlers Godwin Baxter zu neuem Leben erweckt. Godwin erteilt seinem Medizinstudenten Max McCandless den Auftrag, die Entwicklung seiner angeblichen Tochter Bella zu dokumentieren. Max ist gleichermaßen fasziniert wie schockiert, als er die scheinbar erwachsene Frau mit den motorischen Fähigkeiten eines Kleinkindes kennenlernt.
Godwin isoliert Bella von der Außenwelt und kreiert einen geschützten Raum, indem sie sich nach ihrem eigenen Willen entfaltet und erforscht. Ihre sexuelle Lust entdeckt sie schnell, doch ihr rebellisches Benehmen ähnelt noch lange dem eines Kindes. Erst als Bella den geschützten Raum verlässt, um mit dem einehmenden Duncan Wedderburn auf eine Reise zu gehen, wird sie das erste Mal durch verschiedene Begegnungen und von den Einflüssen der Umwelt eingenommen und geformt. Bald schon verabschiedet sich ihr rebellisches Ich von den Zwängen ihres Begleiters Duncan, um nun vollkommen selbst in der Welt zu stehen. In einem Bordell findet sie Arbeit und nutzt ihren Körper und ihre Lust, um sich ein eigenes Leben aufzubauen.
Filmische Gesellschaftskritik
„Poor Things“ zeigt eine bunte, aufregende Welt durch die Augen eines Kindes. Das sich entwickelnde Kind rebelliert gegen die Erwartungen an einen Frauenkörper. Diese fantasievolle Welt bietet die nötige Distanz, um die Absurditäten und Strukturen unserer Gesellschaft zu dekonstruieren.
Die Zeit, in der „Poor Things“ spielt, ist nicht eindeutig vorgegeben. Die Kleidung, die an den Anfang des 20. Jahrhundert erinnert, widerspricht den futuristischen UFO-artigen Gefährten, die am Himmel zu sehen sind. Es entsteht eine Zeit, die nicht in der Vergangenheit gefangen ist, sondern auch auf die Gegenwart und Zukunft anspielt.
Die sexuelle Weiblichkeit
Das Bild der Frau, sexuell und auch nicht sexuell, wurde vor allem in der Vergangenheit vollkommen vom Mann bestimmt oder, kulturell gesehen, vom Künstler gemalt oder vom Autor kreiert. Diese Bilder von Frauen schaffen Vorgaben für Frauen, die das Selbstbild der Frau prägen. Auch in „Poor Things“ zeichnet ein männlicher Regisseur ein Bild einer Frau, und eine Ebene tiefer ruft ein männlicher Wissenschaftler Bella ins Leben. Dennoch schafft es der Film, diese kreierte Frau aus ihrer eigenen Kraft heraus, unabhängig eines Mannes, stehen zu lassen.
Die kleine Welt, die der Wissenschaftler für Bella baut, schirmt sie komplett von der Außenwelt ab – wodurch sie ihre eigene Identität aus sich selbst heraus schöpft. Sie reagiert pur und ehrlich und nicht aus der vorgeschriebenen Rolle einer Frau. Auch ihre Sexualität konstruiert sie eigenständig – im Gegensatz zu vergangenen Normen, nach denen der Mann die Frau in die Sexualität einführt. Ein Bild, dem sich Bella widersetzt. Dadurch schafft es „Poor Things“, die in der Vergangenheit weitgehend von Männern ausgeübte soziale Kontrolle der Sexualität zu zeigen und sie im gleichen Zuge aufzulösen.
Weibliche Intimität im Wandel
Die Thematik der Sexarbeit von Bella steht als Ausdruck dafür, dass die männliche Lust über der weiblichen steht. Im gleichen Zuge wird aber das Porträt einer Frau gezeichnet, die ihre weibliche Lust subjektiviert, entfaltet und über die männliche Lust setzt. Bella beschäftigt sich aktiv mit ihrer eigenen Lust. „Why do people not do this all the time?“, fragt sie, nachdem sie die Onanie für sich entdeckt. Sie schläft mit verschiedenen Geschlechtern, experimentiert und lernt. Während die Gesellschaft der Vergangenheit den Zugang zu Sex lediglich durch die Institutionalisierung der Ehe akzeptiert und außerhalb derer tabuisiert hat, erfährt Bella einen freien und autonomen Zugang zu Sex. Dieser Zugang zu Sex wird uns auch in der gegenwärtigen Gesellschaft immer lauter und öffentlicher geprägt. Die als tugendhaft oder auch unerfahren geltende Frau emanzipiert sich zu einer sexuell erfahrenen Frau, mit einem größeren Wissen über den eigenen Körper und die eigene Sexualität. Weil „Poor Things“ sich irgendwo zwischen der Vergangenheit und Zukunft einordnet, rekonstruiert es einen Wandel der Darstellung der weiblichen Lust.
„Poor Things“ zeigt die absurden Erwartungen an Frauen und die patriarchalen Strukturen unserer Gesellschaft, in denen der Mann über das Leben der Frau entscheidet und die immer vorausgesetzte permanente sexuelle Verfügbarkeit einer Frau feiert. Doch all das prallt an Bella ab. Ihre Naivität trägt dabei die entscheidende Rolle. Durch das Erschaffen des männlichen Fantasiebildes einer naiven Frau wird Bella schnell zum Objekt der Begierde bei den männlichen Figuren. Ihre naive Offenheit gegenüber ihrer Sexualität ist in der feinen Gesellschaft, von der der Film öfter spricht, eine Seltenheit. So wie die Onanie. „In fine society, that is not done.“, sagt Max McCandles, als Bella die Entdeckung ihres eigenen Körpers und der Lust mit ihm teilen will. Gerade durch die Naivität subjektiviert sie sich selbst und ihre Lust.
Erst auf ihrer Reise wird sie von der Außenwelt geschluckt und verändert wieder ausgespuckt. Doch ihr Eigenwille bleibt ihr erhalten. Wenn sie bei der Reise auf die verschiedenen Menschen mit verschiedenen Philosophien stößt, eignet sie sich das von ihr ausgewählte Gedankengut an: „I’m a changeable feast, as are all of we apparently.“
Schlussbetrachtung
So, wie Bella Baxter in der fiktiven Welt ein Experiment darstellt, ist der Film ein Experiment in der Wirklichkeit. Ernste Themen werden durch eine kindliche Klangwelt getragen und in einer bunten Landschaft lebendig. Obwohl Bella die traditionelle Frauenrolle einer Gesellschaft verkörpert, handelt sie nicht danach. Da sie nicht mit den dazugehörigen absurden Erwartungen an eine Frau aufwächst. Ihr Unwissen schützt sie und ermöglicht es ihr, ihre eigene, individuelle Rolle zu entdecken. Die Komplexität des Charakters Bella macht den bleibenden Gedanken verzeihbar, dass eine naive, sexdurstige weibliche Hauptfigur von einem Mann, dem Regisseur Yorgos Lanthimos, geschaffen wurde, da sie letztendlich als starke feministische Frau funktioniert.