Rent
Die Stimmung der Großstadt im Musical
Auch nach der 1000sten Vorstellung ist die energiegeladene Rockoper, die als Hintergrund das Leben von Künstlern, Süchtigen und Anarchisten und deren Kampf gegen Armut und Aids benützt, das New Yorker Bühnenereignis Nummer eins. Nun läuft „Rent“ seit wenigen Tagen mit einem eigenen, international besetzten Ensemble im Düsseldorfer Capitol Theater.
Ein blaues Lasergewitter zuckt. Neben allerlei futuristischem Gerät tummeln sich schrille Gestalten auf abgefuckten Stahlgerüsten: Transvestiten, Stricher, Drogenabhängige. Liebliche Sounds sind aus den Boxen zu hören. Mark lümmelt auf einem Tisch. In Gedanken versunken, stimmt er seine Klampfe …
„Rent“ ist ein etwas anderes Musical – eines, das die Stimme der Großstadt inszeniert und auf eine Wohngemeinschaft im Künstlerviertel East Village projiziert. „Rent ist ein Kind unserer Zeit,“ meint Jim Poulos, einer der beiden Hauptdarsteller der New Yorker Produktion, „das ziemlich ausgeflippt daherkommt und gleichzeitig nachdenklich stimmt.“ Nach den vielen Hochglanzschinken à la Andrew Lloyd Webber ist Jonathan Larsons moderne Version von Puccinis Oper „La Bohème“ eine erfrischende Abwechslung in der Musicalszene. Komponiert und geschrieben von einem Regisseur, der 1996 kurz vor der Premiere am Broadway im Alter von 35 Jahren starb, vermittelt „Rent“ ähnlich wie seinerzeit „Hair“ das Lebensgefühl junger Menschen im ausgehenden 20. Jahrhundert.
Doch es ist eines, die Zeichen der Zeit zu zeigen, etwas anderes ist es, die Auswirkungen dieser Zeit auf die Menschen darzustellen. Larson gelingt es, die Konflikte von einer abgehobenen auf die menschliche Ebene zu verlagern. Das mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnete Rockmusical weist in seiner theatralischen Dynamik und Kraft manchmal sogar Brechtsche Züge auf – etwas, woran es den meisten zeitgenössischen Broadway-Musicals mangelt. Seit dem Erfolg von „Hair“, meldeten Zeitungen nach der New Yorker Premiere, habe man ein vergleichbares Rockmusical nicht mehr erlebt. Vielleicht wird das von Heinz Rudolf Kunze ins Deutsche übersetzte Stück auch hierzulande eines jener raren Ereignisse werden, die einen Sonderplatz am Musical-Firmament einnehmen. „Wie die ‚Rocky Horror Picture Show‘“, spekuliert jedenfalls Jim Poulos, „wird ‚Rent‘ in Europa eine echte Kultgemeinde finden.“
Im Mittelpunkt der Handlung stehen Mark, ein ehrgeiziger Filmemacher, und Roger, ein HIV-positiver Komponist. Die beiden wohnen zur Miete (= rent) in einem alten Industriegebäude, das sie wegen Geldmangels bald räumen müssen. Damit nicht genug: Gerade hat Marks Freundin Maureen ihn sitzenlassen. Verzweifelt nimmt Mark mit anderen East-Village-Bewohnern an einem Protest-Sit-in gegen Vermieter Bennys Rausschmeiß-Aktion teil. Währenddessen erhält Roger Besuch von Mimi, einer Tänzerin aus einem nahegelegenen Sado/Maso-Lokal …
Neben sozialen Themen wie Armut, Drogenabhängigkeit und Prostitution geht es in „Rent“ vor allem um Phänomene wie Aids, Computeranarchie und die Oberflächlichkeit heutiger Großstadt-Beziehungen. Dabei wächst „Rent“ nicht nur musikalisch über die übliche Broadway-Klamotte hinaus. Flotte Szenenwechsel prägen die Handlung, bei der Probleme nicht als moralisches Feigenblatt dienen, sondern konsequent angesprochen werden. Auch das Bühnenbild von Paul Clay strahlt eine ganz eigene und dennoch zeitlose Universalität aus: eine seltsame Mischung aus massigen Betonklötzen, Eisengittern, herumliegendem Abfall und einem bizarren, gelegentlich aufleuchtenden Baugerüst. Zweieinhalb Stunden lang zeigt das Rockmusical die Kehrseite eines von Moralklischees bestimmten Amerika und wirkt dabei nicht wie einstudierte Choreografie, sondern wie das intuitive Zusammenspiel von Musik und Theater, von Realität und Traum.
Jürgen Spieß