Richard Russo: Jenseits der Erwartungen
Der neue Roman von Richard Russo dreht sich um drei Männer und eine junge Frau – nur bleibt Letztere im Vergleich zu den anderen Figuren reichlich schemenhaft.
Am 01. Dezember 1969 hatten sie als potenzielle Soldaten gemeinsam die Vietnamkrieg-Lotterie verfolgt, später haben sie sich beinahe aus den Augen verloren. Im September 2015 aber treffen sich die drei College-Freunde Lincoln, Teddy und Mikey nach langer Zeit wieder – für ein Wochenende auf Martha‘s Vineyard. Inzwischen sind sie Mitte 60, und auch wenn ihre Leben höchst unterschiedlich verlaufen sind, einen sie bis heute drei Dinge: die Erinnerung an das Zittern und Bangen während der Lotterie. Ihr Wahlspruch „Einer für alle, alle für einen“. Und der Verlust der faszinierenden Jacy, die einst, nach einem gemeinsamen Wochenende auf Martha‘s Vineyard, spurlos verschwunden ist.
Richard Russo beherrscht im Schlaf, komplexe männliche Persönlichkeiten zu skizzieren, und so bringt jeder der drei alternden Babyboomer seine klug konstruierte Lebensgeschichte mit. Aus unerfindlichen Gründen aber überfrachtet Russo seinen Roman mit einer seichten Kriminalgeschichte, basierend auf der Frage: Was geschah dereinst mit Jacy? Verdächtigungen werden erhoben, Beschuldigungen ausgesprochen, Zeugen aufgesucht – alles äußerst oberflächlich und wenig einleuchtend. Bei alledem bleibt jene Jacy seltsam schemenhaft, und der Eindruck entsteht: Alte weiße Männer kann der alte weiße Mann gut. Mystery und spannende junge Frauen aber liegen ihm nicht so. jul
Richard Russo Jenseits der Erwartungen
Dumont, 2020, 432 S., 22 Euro
Aus d. Engl. v. Monika Köpfer