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Sam Hawken: Kojoten

Wenn mitten in der Wüste an einem Baum Frauenhöschen hängen, ist das kein gutes Zeichen. Texas-Rangerin Ana Torres findet bei ihren einsamen Patrouillen im Grenzgebiet zu Mexiko immer wieder solche Vergewaltigungsbäume: Mexikanische Menschenschmuggler, sogenannte Kojoten, vergewaltigen Frauen, die sie gerade über die Grenze in die USA gebracht haben, und dekorieren die Unterhosen als perverse Trophäen in Bäumen. Torres dokumentiert die Spuren mit ihrer Kamera, entdeckt einen erschossenen Mexikaner und liefert einen Bericht ab. Alltag für die Texas-Rangerin: Noch ist sie nicht abgestumpft, doch Hoffnung hat sie nicht, dass die Täter jemals gefasst werden, denn im unwirtlichen Niemandsland verwehen die Spuren im Wüstensand. Ein paar Tage später kommt sie bei einem Nachteinsatz jedoch plötzlich einer Gruppe Kojoten gefährlich nahe … Szenenwechsel: Der ehemalige Kojote Luis Gonzales führt in der mexikanischen Grenzstadt Ojinaga ein einfaches Leben. Er hat einen Gemischtwarenladen eröffnet und verkauft Proteinriegel, Batterien und Rucksäcke an Grenzquerer. Auch wenn das Geschäft schleppend läuft, ist er zufrieden mit sich, seinen Hunden und seiner neuen Liebe Adriana. Doch Kojoten-Boss Ángel möchte Luis wieder in seine Bande holen. Als Luis ablehnt, wird sein Geschäft überfallen und er wortwörtlich in die Zange genommen. Schließlich übernimmt Luis doch wieder einen Auftrag für Ángel und führt nach vielen Jahren eine Gruppe von Illegalen ins Grenzgebiet … Szenenwechsel: Marisol Herrera bricht mit ihren paar Habseligkeiten von El Salvador in die USA auf. In überfüllten Bussen verbringt sie schier endlose Fahrten, mit ihrem letzten Geld vertraut sie sich einer Gruppe Kojoten an – und schließlich muss sie ihren ganzen Mut für eine Verzweiflungstat zusammennehmen … Drei Geschichten, drei Schicksale, die sich erst am Ende verbinden. Sam Hawken erzählt in seinem leisen, eindringlichen Roman vom Alltag seiner Protagonisten, der von permanenter Anspannung, Furcht und Verzweiflung gezeichnet ist. Auf beiden Seiten schwitzen und stinken sie vor Hitze und Angst. Durch seine ruhige Erzählweise baut der US-Autor immer mehr Spannung auf, die dem Leser förmlich die Luft abschnürt. Um dann in nur wenigen Szenen die Gewalt explodieren zu lassen: Vergewaltigungen, Folter, Schüsse – die Grausamkeiten der Kojoten brauchen keine Inszenierung mehr, und sie entladen sich wie Kanonendonner aus der angestauten Anspannung. Der 3144 Kilometer lange Grenzzaun zwischen Mexiko und den USA bestimmt als aggressiver Akt der Ausgrenzung das Leben unzähliger Menschen. Statt Migrationsprobleme zu lösen, ist er für Neid, Hass und unzählige Todesopfer verantwortlich. Und wenn als hilfslose Reaktion jetzt auch in Ungarn die Grenzzäune hochgezogen werden, steht zu befürchten, dass man bald auch von europäischen Kojoten lesen wird.

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