Am Schauspiel Frankfurt treibt „Dracula“ sein Unwesen
Regisseurin Johanna Wehner spricht mit uns über ihre Adaption des Horrorstoffes von Bram Stoker am Schauspiel Frankfurt. Was sagt uns der Fürst der Finsternis über das Jetzt?
Johanna Wehner, letztens gab es einen Kinofilm, der nur die Überfahrt Draculas nach England thematisierte, und es gab gerade eine „Dracula“-Serie, die dem Blutsauger die umgedeutete Vampirjägerin Agatha van Helsing gegenüberstellt. Ist die Geschichte von „Dracula“ nun am Schauspiel Frankfurt wie ein reichhaltiges Büfett, aus dem sich jeder und jede das nehmen kann, was für seine/ihre Idee von „Dracula“ passt?
Oh. Eine einigermaßen suggestive Frage, finden Sie nicht? Also. Tja. Ja. Das kann man wohl so sagen, dass sich da jeder und jede, was auch immer für eine jeweilige Idee taugt, nehmen kann. Wie die Frage gestellt ist, hört sich dieser Prozess freilich reichlich willkürlich an. Ich mache mal einen ganz unzynischen Versuch: Es doch eine Art Prämisse von Kunst, dass sie be- und verarbeitend auf Themen, Diskurse, Phänomen und – ja selbstverständlich! – Stoffe zugreift. Dass die Geschichte von „Dracula“ diesbezüglich in irgendwie auffälliger Weise herhalten muss, ist jedoch natürlich Unsinn. Mel Gibson hat im Jahr den Film „Die Passion Christi“ gemacht, 1727 wurde Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion zum ersten Mal gezeigt, und Herr Stückl hat zuletzt 2022 die Oberammergauer Passionsspiele zur Aufführung gebracht. Dient also die Bibel als Büfett, aus dem sicher jeder und jede das nehmen kann, was für seine/ihre Idee davon passt? Wenn man das so zugespitzt ausdrücken will, dann: ja. Und auch „Dracula“ ist ein Stoff, der weit mehr als eine popkulturell oft verarbeitete Story liefert (mit der schon sehr viele Menschen weit mehr Geld verdient haben, als wir kleinen Theaterdödel), nämlich ein literarisches Werk, dramaturgisch zwar nicht durch und durch geglückt, in der es aber um ziemlich profunde Aspekte gesellschaftlichen Miteinanders geht. Unter anderem um die Frage, wer sich das Recht herausnimmt, die Regeln aufzustellen (und warum), und wer bestimmen darf (und warum), wie ein richtiges, sogenanntes „pflichtbewusstes“ Leben auszusehen hat. Das macht übrigens einen guten (Theater-)Stoff aus (die konkrete Vorlage muss dafür nicht gleichzeitig genauso gut sein): Er beinhaltet Fragen und Themen, die überall dort eine Rolle spielen, wo Menschen miteinander leben und ist ausreichend offen, dass für unterschiedliche Kontexte daraus immer wieder neue Konstellationen gestrickt werden. Und zwar um über Menschen, über Gesellschaften, über das Leben sprechen. Na ja. In Hinblick auf „Dracula“ kann man in dieser Hinsicht fast nur müde lächeln. In meiner Examensprüfung musste ich einen Teil aus Hartmann von Aues „Iwein“ übersetzen, ein in Mittelhochdeutsch verfasstes Werk wohl aus dem Jahr 1200, in dem sich der Autor einen einzelnen Ritter aus Tafelrunde herausgenommen hatte und dessen Abenteuer beschrieb. Aber da war das „Artusbüffet“ bereits seit 200 Jahren eröffnet – und ist es noch.
Schauspiel Frankfurt: „Mit Herausnehmen vom Büffett hat das reichlich wenig zu tun.“
Ihre Idee von „Dracula“ am Schauspiel Frankfurt durchleuchtet den Vampir als eine Art verwesentlichte Schuld der Menschheit, als Wesen,das jahrhundertelang Zeuge menschlicher Grausamkeit wurde und sich nährt von der Unfähigkeit der Menschen, sich für ein friedvolles Miteinander zu entscheiden. Was war der Ausgangspunkt für diese Interpretation?
Der Ausgangspunkt war – wie immer – die Vorlage. In diesem Fall also der Roman. Viele kennen die Filme, da ist Dracula immer mit einem Behelf versehen, der ihm irgendeine Handlungsmotivation schafft. Bei Francis Ford Coppola und seinem „Dracula“-Film von 1992 etwa gibt es die (Zusatz-)Erfindung, dass Mina, also die Frau eines Immobilienanwalts, der für Graf Dracula in London ein Haus kaufen soll, genauso aussieht wie seine vor Hunderten von Jahren unter tragischen Umständen verstorbene Ehefrau. Mina wird also das kompensatorische Objekt der Begierde, und die Geschichte immt ihren Lauf. So „basteln“ sich die meisten Film- oder Serienadaptionen eine an die Dracula-Figuren angelehnte, faktisch aber völlig freie und andere Geschichte. Im Roman steht von diesen Dingen nichts. Im Roman steht ohnehin über die Figur „Graf Dracula“ überhaupt nichts, sofern es nicht von irgendwem aus der Erinnerung so oder so geschildert wird. Und da werden dann also Sätze zitiert, die dieser Graf gesagt haben soll. Unterstellen wir den Nacherzählenden mal, dass sie sich richtig erinnern, und die Sätze so gesagt wurden: So erzählt Dracula etwa die Geschichte der Kriege, die in den letzten Jahrhunderten in seiner Region Transsilvanien, also der Bukowina, stattgefunden haben. Das ist ein ziemlich langer und bemerkenswerter Abschnitt. Da dachte ich beim Lesen, wie schrecklich eigentlich, wenn jemand alle Schlachten der letzten Jahrhunderte miterlebt hat. So wie Menschen, die nicht einen, sondern gleich beide Weltkriege miterleben mussten. Horror. Beim weiteren Lesen sind die Texte des Grafen immer und immer wieder solche: Wie die Dinge langsam aber sicher kaputtgehen, geht nur genug Zeit ins Land, wie lange der Aufbau eines neuen Zuhauses dauert, bis auch diese wieder zerbröckelt, wie selbst jahrzentelanger Frieden mit der Zeit zur zweifelhaften Größe wird, wenn doch bereits aus Erfahrung der nächste Übergriff früher oder später ansteht. Ist das nicht furchtbar? Die Geschichte der Menschheit ist eingeschrieben und anders, als Verbrechen, die irgendwann verjähren oder eben in Vergessenheit geraten, kann da jemand die Historie vergangener Gräuel simpel nacherzählen. Und das alles steht erstmal für sich, ganz ohne bereits kollektiv mitgelieferte Einschätzungen über den moralischen Zustand einer Figur. Es geht nämlich – hier nehme ich Ihre ebenfalls etwas suggestive nächste Frage kurz vorweg – bei der Beschäftigung mit Stoffen nicht sofort um Interpretation, nicht um Ideen der Umsetzung, schon gar nicht um Inszenierungskonzepte. Es ist zuallererst eine Auseinandersetzung mit Themen, die man interessant findet und die dazu gehörende Recherche. Ein Makler, der aus London in die Karpaten reist, mit britischer Arroganz die dortige Landbevölkerung als grob und tölpelig beschreibt, hierzu Aufzeichnungen in geheimer Kurzschrift macht und sich fragt, warum eigentlich noch niemand die doch reichlich vorhandenen Bodenschätze der Region geborgen hat. Ein einheimischer Graf, der (treffend) bemerkt (ich paraphrasiere): Unsere Lebensweise ist nicht die Ihre. Ihnen mag das (Fremde) vielleicht eigenartig vorkommen. Das lese ich, nehme es auf. Lese zur Historie der Region, über die Entstehung des „Reinheits“-Begriffs und seiner Bedeutung für die Spanische Inquisition, die vornehmlich dazu diente, die Unerwünschten zu vernichten. Und auf einmal stellt sich heraus, dass das eben kein Roman über Monster ist, sondern ein Roman über Gesellschaft. Und DANN fange ich überhaupt das Konzipieren erst an. Mit Herausnehmen vom Büffett, auch auf die Gefahr hin, dass man später auf die neben dem Kartoffelsalat platzierte Mousse au Chocolat keinen Hunger mehr hat, hat das also reichlich wenig zu tun.
Wie vertrauenswürdig ist eine Kreatur in ihrer Zeugenschaft bezüglich Grausamkeiten, die selber grausam ist?
Ich weiche Ihrer Frage aus: Glauben Sie Bulgakows Voland in „Der Meister und Margarita“, dass der bei Jesus Kreuzigung dabei war? Hat diese Frage etwas mit der Frage von Volands moralischer Angemessenheit zu tun?
Der Hörspielautor H. G. Francis hat auch eine Reihe mit Gräfin Dracula gemacht, das war aber nicht so erfolgreich. Wäre heute nicht die Zeit reif für eine Fürstin der Finsteris, zum Beispiel jetzt am Schauspiel Frankfurt ?
Na klar. Die Rolle kann man garantiert mit einer Schauspielerin besetzen. Meinen Sie das? Es ist so: Es geht mir bei der künstlerischen Zusammenarbeit nicht um Merkmale, sondern um Persönlichkeiten. Ich arbeite unter anderem deshalb immer wieder gern am Schauspiel Frankfurt, weil ich das Ensemble sehr liebe. Heidi Ecks und ich hatten im Oktober vor zehn Jahren unsere erste gemeinsame Premiere. Caroline Dietrich kenne ich bald ebenso lang. Mit Matthias Redlhammer verbindet mich die äußerst beglückende Arbeit an Joseph Roths „Hiob“ und ach, noch viel mehr. Diese Verbindungen sind so stark, weil wir gemeinsame künstlerische und persönliche Themen haben, sie begleiten den Weg, den wir gehen. Meine Besetzungen entstehen nicht so „der oder die ist so und so groß, hat die und die Haarfarbe und das und das Geschlecht“, sondern ist motiviert durch thematische Punkte, an denen ich mich mit diesen Menschen befinde und die zu meinem Schaffen dazugehören, so wie ich manchmal zu ihrem. Diese Menschen und die Inhalte, die unsere Beziehungen prägen, fließen übrigens auch immer in die Stoffauswahl ein, wir suchen also immer Stoffe, die nicht nur fürs Programm schillern, sondern für die darstellenden Personen geeignet und interessant sind. Das finde ich wunderbar, dass ich solche Verbindungen hier so pflegen kann. Die Spielerinnen und Spieler werden zentral mitgedacht, man hat Lust, das in dieser Konstellation zusammen zu machen, dann sucht man es so aus. Ein ziemlich schöner Prozess insofern, dass Schauspielende nicht so sehr auf bestimmte Teilaspekte ihrer Person reduziert werden, es ist ein inhaltlicher Weg, an dem eben verschiedene künstlerisch tätige Personen beteiligt sind. Es ging für die Bearbeitung der Dracula-Figur in diesem konkreten Fall zum Beispiel eher um Fragen von bestimmten Lebenspunkten. So kam dann die Besetzung zustande. Und zwar die Besetzung aller Figuren.
Interview: Volker Sievert