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Scott Hutchins: Eine vorläufige Theorie der Liebe

Auf den ersten Blick ist Neill Bassett Jr. bestenfalls unzureichend für die Mitarbeit an einem Projekt qualifiziert, das auf die Entwicklung eines intelligenten Computers abzielt. Ziel der gemeinsamen Arbeit mit der zwischen Genie und alterndem Kauz schwankenden Szenegröße Henry Livorno sowie einem überarbeiteten Programmierungsexperten ist das Bestehen des sogenannten Turing-Tests. In dessen Verlauf muss ein knappes Drittel der Juroren sich dahingehend täuschen lassen, sie führten eine Unterhaltung mit einer Person aus Fleisch und Blut. Trotz mangelnder Expertise ist Neill unverzichtbar für das Projekt, denn die Basis für die Sprachproduktionen – und, so die Idee: die Persönlichkeit – der Maschine bilden mehrere tausend Seiten akribisch gepflegter Tagebücher aus der Feder seines toten Vaters.

Im Kern bestimmen wenige Fragen die nächsten Schritte: Worin besteht Menschlichkeit? Wie gelangt man zu einem Bewusstsein? Oder, präziser: Wie lassen diese sich künstlich produzieren? In den Chatgesprächen, die Neill zur Beantwortung dieser Fragen mit der, nach seinem Vater auf Dr. Bassett getauften, Maschine führt, wird sein fachliches Interesse von einem emotionalen überlagert, denn Bassett Senior führte nicht nur ein zurückgezogenes, verschlossenes Leben – er setzte diesem auch ein vorzeitiges Ende, als Neill noch ein Kind war.

Die Idee, die der amerikanische Romandebütant Scott Hutchins verfolgt, ist ebenso verführerisch wie spannend. Die posthume Befragung eines Mannes zu Fragen, deren Antworten zwischen den Zeilen, in den Tiefen seiner Persönlichkeit, liegen, führt zu intensiven, mit stockendem Atem gelesenen Passagen, Hutchins weiß den fingierten Kontakt zwischen Vater und Sohn in seiner belastenden Bedeutsamkeit darzustellen. Doch nimmt er sich nicht stets ausreichend Zeit, die Fortschritte des Projekts zu erläutern oder seinen Roman mit überzeugenden Nebenschauplätzen auszustatten. Sein theoretischer Unterbau scheint solide recherchiert, und der von Episoden aus Neills Privatleben durchsetzten Erzählstruktur ist rein technisch nichts vorzuwerfen.

Hutchins, der Creative Writing an der Universität von Stanford unterrichtet, scheitert aber an den existenziellen Fragen, die er in den Raum stellt und die sich für seinen Protagonisten als allzu weitreichend erweisen. Der zynische, aus dem konservativen Arkansas in das insbesondere sexuell liberale San Francisco gezogene Neill ist nicht ohne Witz, doch er bleibt blass. Seine gescheiterte Ehe, die nachfolgende Beziehung zu einer Zwanzigjährigen und die spöttische Sicht auf allerlei lokalkolorierte Eigenheiten der Bewohner von San Francisco behaupten Neills Status als Sonderling, der en passant herauszufinden bemüht ist, worum es im amourösen Miteinander sowie im Leben allgemein eigentlich geht.

Die permanente Thematisierung von Sex bleibt seltsam ziellos und wirkt in ihrer Pointenlosigkeit entweder wie Bauernfängerei oder wie eine Rebellion gegen die vorgestrige Prüderie. Mit „Eine vorläufige Theorie der Liebe“ präsentiert Scott Hutchins eine wunderbare, immer wieder effektvoll umgesetzte Romanidee, die ohne Reiz nicht ist. Zuweilen sollte er dem Effekt allerdings weniger Bedeutung zumessen. Denn Effekte allein tragen keine Geschichte, schon gar keine so ambitionierte.

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