Traditionsstreich
Auch nach über 50 Jahren schlägt das Herz von Shirley Collins noch für die britische Folk-Tradition. „Heart’s Ease“ lässt dennoch ein Experiment zu.
Shirley, „Heart’s Ease“ ist dein erstes Album seit du mit „Lodestar“ 2016 deine 38-jährige Abwesenheit von der Musik unterbrochen hast. Fühlt es sich mittlerweile wieder vertraut für dich an?
Shirley Collins: Ich fühle mich wieder mehr wie ich selbst. Und es ist schön, wieder mit den alten Freunden aus meiner Band spielen zu können. Ich kenne die meisten von ihnen seit über 50 Jahren, und die Zusammenarbeit mit ihnen fühlt sich sehr stimmig an. Es ist nur enttäuschend, dass wir, obwohl „Heart’s Ease“ bald erscheinen wird, keine Gigs spielen können.
Hat es dir in deiner langen Pause gefehlt, live zu spielen?
Collins: Ja, das hat es. Und ich habe die Konzerte, die wir nach „Lodestar“ gespielt haben, durch und durch genossen. Es hat sich gut angefühlt, wieder im Sattel zu sitzen und zu singen, und jetzt habe ich ein bisschen Angst, dass ich mein Selbstvertrauen wieder verliere, wenn ich eine Zeit lang nicht mehr auftrete.
Sind die Intimität und die Unmittelbarkeit der Lieder für dich ein großer Bestandteil von Folkmusik?
Collins: Ich habe früher oft Field Recordings von alten Leuten gehört, die Folksongs ganz ohne Begleitung singen. Vielen gefällt das nicht, es fühlt sich für sie unbehaglich an. Für mich ist es schön, dass in diesen Aufnahmen niemand seinen Gesang ausstellt – sie reichen einem lediglich das Lied. Es ist sehr aufrichtig und unaufdringlich. So fühlt sich Folkmusik für mich richtig an, und ich kann sie auch nicht anders singen.
Für viele ist Folkmusik sehr persönlich. Die traditionellen Lieder, die du singst, erzählen ihre Geschichten hingegen von einer ganz anderen Warte aus.
Collins: Ja, und ich finde an dieser Musik so faszinierend, wie lange diese Songs schon gesungen werden. Die persönlichen Aspekte von moderner Musik werden selten auf eine Art und Weise ausgedrückt, die mich interessiert. Die Songs, die ich singe, begleiten mich schon sehr lange, aber es geht dabei nicht um mich.
Es hat mich sehr überrascht, zu erfahren, dass du mit David Tibet von der experimentellen Neofolk-Band Current 93 gearbeitet hast.
Collins: David hat sich mir schon vor etwa 30 Jahren vorgestellt und mich darum gebeten, auf einem seiner Alben zu singen. Ich habe mich lange Zeit geweigert, er war aber beharrlich, und wir sind mit der Zeit gute Freunde geworden – obwohl ich seine Musik nicht wirklich verstehe. 2014 habe ich schließlich zugesagt, auf einem seiner Konzerte in London zu spielen. So hat alles angefangen. Ich schulde David Tibet sehr viel. Ohne ihn und seine Ausdauer würde ich heute nicht wieder singen.
Der Song auf „Heart’s Ease“, der mich am meisten überrascht hat, ist das vierminütige Ambientstück „Crowlink“. Ist das der Einfluss von David Tibet, oder ist das ein Teil der britischen Folk-Tradition, mit dem ich nicht vertraut bin?
Collins: (lacht) Nein, das ist auf jeden Fall kein Teil der Folk-Tradition. Gefällt er dir?
Oh, ja! Ich mag ihn sehr. Es war bloß unerwartet, dass der letzte Song so ausschert.
Collins: Das finde ich schön. Crowlink ist eine der Klippen am Rande des Ärmelkanals, etwa drei Kilometer von meinem Zuhause entfernt. Es ist sehr abgeschieden und still dort, bis auf den Klang des Meeres und der Vögel. Mein Sohn Bobby Marshall und der Produzent Matthew Shaw sind dort spazieren gegangen und haben diese Klänge aufgenommen. Matthew hat daraus den Song „Crowlink“ gemacht, und als Bobby und er ihn mir vorgestellt haben, war ich überwältigt. Ich hätte nicht gedacht, dass mir so etwas gefallen würde.