Stomp: Musik aus dem Mülleimer
Blechdosen, Streichholzschachteln, Feuerzeuge – alles Klangkörper im außergewöhnlichen Musical „Stomp“, das diesen Monat in die Stadt kommt. Sanft streicht eine der jungen Darstellerinnen über den Deckel einer Mülltonne, eine Plastiktüte raschelt. Immer mehr Leute treten auf, schnappen sich herumliegende Gegenstände, reden miteinander – nur durch Geräusche. „Mit minimalen Geräuschereignissen wollen wir Erlebniswelten schaffen, die weder Fernsehen noch die großen Musicals so bieten können“, erklärt die New Yorker Pressesprecherin des Müllspektakels, Adrian Bryan-Brown.
Szenenwechsel: Der Lesesaal einer Bücherei, vier Personen lesen Zeitungen und Zeitschriften. Plötzlich beginnt das Papier zu leben, wird zerlegt, gefaltet, umgeblättert. Das vergnügte Chaos führt zu einem rhythmischen Gleichklang mit einer anderen Truppe, die im Takt den Bühnenboden fegt. Nein, „Stomp“ hat nichts von der unerbittlichen Härte der französischen Trommlergruppe Les Tambours du Bronx, die wild auf riesige Ölfässer einschlägt. Kein Vergleich zu afrikanischen Trommelkursen, bei denen es um rhythmische Regelmäßigkeit und tranceähnliche Zustände geht; „Stomp“ spürt alltäglichen Rhythmen nach. Die Rhythmus- und Tanzperformance eroberte nach der Premiere im Februar 1994 im Sturm das mit Musical-Highlights verwöhnte New Yorker Publikum. Und das ohne üblichen Musicalprunk, aber mit viel Energie und Kreativität. Mittlerweile hat die zweimal täglich ausverkaufte Off-Broadway-Show Kultstatus. Die Direktoren und Erfinder, Steve McNicholas, 41, und Luke Cresswell, 32, hatten Anfang der Achtziger im englischen Brighton die Idee, ein Straßenmusical ohne Gesang und Instrumente zu schaffen. Schon drei Jahre später gründeten sie das Orpheum-Theater in New York. Heute gilt das Müll-Spektakel unter Touristen als Geheimtip. Eine Besucherin: „Die Überraschungseffekte erinnern an Zufallsbekanntschaften auf der Straße oder an die Situation, wenn jemand eine witzige Bemerkung in einem überfüllten Fahrstuhl macht.“
Showdown: Luke Cresswell, allein auf der Bühne des „Orpheum“-Theaters, verabschiedet sich kurz vor Mitternacht vom überschwenglichen Publikum. Er reibt die Hände im Takt, die Besucher schnippen rhythmisch mit. Dann überläßt Cresswell das Auditorium sich selbst, mit den einzigen gesprochenen Worten des Abends: „Just let yourself go“ – laßt euch einfach gehen.
Jürgen Spiess