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Tortoise

Mit ihrem vierten Album „Standards“ hat die Chicagoer Band Tortoise ein überraschendes Statement abgelegt – in mehrfacher Hinsicht. kulturnews traf John McEntire von Tortoise in seinem Studio am Lake Michigan.

kulturnews: John, „Standards“ ist die bislang dynamischste und jazzigste Platte von

Tortoise.

John McEntire: Sie ist sicher wesentlich kompakter als ihr Vorgänger. Wir bauten auf Elementen auf, die wir als Gruppe spielen können. Auf „TNT“ haben wir genau entgegengesetzt gearbeitet. Das war eine exklusive Overdub-Konstruktion. Nichts, was wir live hätten reproduzieren können. Mit kürzeren Stücken, die sich auf den Augenblick konzentrieren, wollten wir zu einem Gruppengefühl zurückfinden.

kulturnews: Wie stellt Ihr die heilige Dreieinigkeit von Schreiben, Spielen und Produktion sicher?

McEntire: Die Linien zwischen diesen drei Elementen verändern sich drastisch von Track zu Track. Statt einer feststehenden Schreibmethode haben wir eine Methode der Studioarbeit, die auf das Schreiben selbst maßgeblich Einfluss nimmt. Der Performance-Aspekt ist auf „Standards“ so weit in den Vordergrund gerückt, als hätten wir uns auf eine Live-Situation vorbereitet. In der Mitte der Aufnahmen haben wir ein paar Shows gespielt, in denen wir ausschließlich neue Songs vorstellten, um zu sehen, was funktioniert. Einiges nahmen wir danach nochmal auf, weil wir plötzlich einen völlig neuen Zugang dazu hatten.

kulturnews: „Standards“ steckt voller wunderbarer, aber gut versteckter Melodien.

McEntire: Das hat mit einer Neugier zu tun, mit allgemein zugänglichen Rohstoffen etwas Ungewöhnliches zu machen. Zum Beispiel, indem wir mit Instrumentierungen arbeiten, die man von diesem Material nicht erwarten würde.

kulturnews: Warum diese zurückhaltende Ausbeutung schöner Melodien?

McEntire: Es war schon immer unser Konzept, die Perspektive auf Konventionen zu verzerren. Du hast eine wundervolle Melodie, doch du brichst sie mittendrin ab und lässt sie nie wieder erklingen. Wir finden es aufregend, tagelang an einer Sequenz zu arbeiten, die nur fünf Sekunden dauert. Perfekt platziert, ist es ein dichter kleiner Ball, der mit der ihm innewohnenden Notwendigkeit in einem winzigen Moment an dir vorüber rollt. Ein solches Element erfordert auch dann deine Aufmerksamkeit, wenn es im Verhältnis zum Gesamtereignis verschwindend ist.

kulturnews: Ungewöhnlich ist die Länge der Platte von gerade 40 Minuten.

McEntire: Das ist die ideale Länge für ein Stück Musik, das man in einem Ritt hören kann, ohne abzuschalten. Wenn du fertig bist, weißt du, was du gehört hast, und kannst es noch einmal hören. In den Sechzigern waren Platten selten länger als 30 Minuten. Das war eine unserer wenigen Vorgaben: Wir wollten die Songs kürzer und kompakter machen und zugleich die ganze Platte in einen zeitlichen Rahmen von 40 Minuten passen.

Interview: Wolf Kampmann

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