Zum Inhalt springen

Schaubühnen-Dramaturg Florian Borchmeyer über Putin, den Krieg in der Ukraine und sein Festival

Ukraine-Krieg: Schaubühnen-Chefdramaturg Florian Borchmeyer
Florian Borchmeyer von der Schaubühne Berlin, Foto: Franziska Sinn

Der Theatermann spricht anlässlich vom Festival Neue Internationale Dramatik 2022 über die Grenzen der Bühnenkunst angesichts von Krisen und Krieg und über sein Festival.

Herr Borchmeyer, werden Sie durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine Ihr Programm kurzfristig ändern müssen?

Florian Borchmeyer: Die Frage der kriegsbedingten Änderung oder gar Absage von Vorstellungen stellt sich für uns aus praktischen Gründen dieses Jahr nicht, weil wir in diesem Jahr keine Produktionen aus Russland oder der Ukraine im Programm haben. Zum Glück, denn angesichts unterbrochener Transport- und Reiseverbindungen wäre es aktuell höchst schwierig, eine große Produktion aus Russland nach Berlin zu bringen, so wie erst vor wenigen Monaten beim letzten FIND die Inszenierung „Outside“ von Kirill Serebrennikov. Dass wir aus inhaltlichen und politischen Gründen Produktionen unsererseits absagen würden, nur, weil sie aus Russland stammen, kann ich mir allerdings nicht vorstellen.

Die russischen Künstler:innen, mit denen wir zusammenarbeiten, haben sich in der Vergangenheit ja immer wieder von Putin abgesetzt und mussten dafür scharfe Sanktionen erfahren. So Serebrennikov, der über Jahre durch einen Schauprozess verfolgt und unter Arrest gestellt wurde. „Outside“ durfte bislang nie in Russland aufgeführt werden. Bühnen im Ausland waren die einzige Plattform. Wenn Stücke von kritischen Künstler:innen nun auch hier nicht mehr gespielt werden dürfen, bedeutet das: Sie werden doppelt bestraft – einmal von Putin, einmal für Putin. Das kann doch keine Lösung sein. Und doch passiert leider genau das in diversen Kulturinstitutionen dieser Tage. So haben etwa gerade drei renommierte europäische Filmfestivals entschieden, sämtliche russische Filme aus dem Programm zu nehmen und ihre Regisseur:innen auszuladen – selbst wenn sie Unterzeichner:innen eines offenen Protestbriefs gegen den Krieg an Putin waren. Damit werden genau die Falschen getroffen. Die meisten uns persönlich bekannten Theater- und Filmemacher:innen aus Russland lehnen den Krieg ab.

Ukraine-Krieg: „DAS brisante aktuelle Stück zum Ukraine-Krieg ist einfach noch nicht geschrieben.“

Besagter Protestbrief wurde von 1 500 andere Künstler:innen unterschrieben, und vor wenigen Tagen etwa hat der Theater-Altmeister Lev Dodin einen sehr eindrucksvollen offenen Brief an Putin geschrieben, in dem er ihn zur Beendigung des Krieges auffordert und klarmacht, dass eine „Operation“ – wie Putin den Krieg euphemistisch nennt – immer das blutige Zerschneiden eines Körpers mit sich bringt.

Jenseits von Absagen gäbe es noch die Möglichkeit, das Programm zu ergänzen.

Eine kurzfristige aktuelle Ergänzung des künstlerischen Programms binnen weniger Tage ist schwer denkbar. Nicht nur aus logistischen Gründen – denn jedes neue Gastspiel braucht einen langen Technik- und Transport-Vorlauf, bevor es für einen neuen Theatersaal eingerichtet werden kann, und zudem sind unsere FIND-Säle bereits voll bespielt, sodass wir für jedes neues Stück ein anderes ausladen müssten. Vor allem aber ist die Tatsache, dass DAS brisante aktuelle Stück zum Ukraine-Krieg einfach noch nicht geschrieben ist. Neue Dramatik ist kein Newsfeed, das auf Knopfdruck die Aktualität verarbeitet und Inszenierungen ausspuckt.

Doch Reaktionen auf das aktuelle Geschehen können auf anderem Weg als in den Inszenierungen geschehen. In ihrem diskursiven Programm hat die Schaubühne etwa sehr unmittelbar auf die Situation reagiert – etwa durch Carolin Emckes Sonderedition des „Streitraum“ zum Thema des Ukraine-Kriegs. Ähnliche Aktivitäten sind auch für das FIND vorstellbar und in Planung.

Hier fasst kulturnews.de die zahlreichen Solidaritätsveranstaltungen mit der Ukraine zusammen.

Erst kam Corona, nun ist Krieg: Was kann das Theater so massiven globalen Krisen entgegensetzen?

Das ist eine entscheidende Frage, die sich nicht allein an das Theater richtet, sondern an alle Kunstformen. Und das ernüchternde Ergebnis ist: konkret und kurzfristig entgegensetzen kann die Kunst nichts. Sie eignet sich weder als Panzerfaust noch als sofort wirksamer Impfstoff zu Immunisierung gegen Krisentraumata. Seit dem Beginn der Pandemie wurden wir von einer Flut an „brandaktuellen“ Corona-Tagebüchern und Lockdown-Dokumentationen und -Fiktionen überschwemmt, die bereits jetzt nach wenigen Monaten so Staub angesetzt haben, dass kaum jemand sie mehr sehen möchte. Doch selbst wenn Sean Penn unter Lebensgefahr und zu Fuß vor den nahenden russischen Truppen fliehend eine Dokumentation über den Krieg in der Ukraine dreht, um die Realität und Ausmaß der Gewalt unauslöschbar festzuhalten, wird das künstlerische Ergebnis womöglich erst fertig sein, wenn der Krieg schon längst entschieden ist.

„,Putin – Die letzte Nacht im Kreml-Bunker‘ würden wir doch kaum sehen wollen.“

Wer sich den Krisen der Welt aktiv und aktuell entgegensetzen will, muss auf die Straße gehen, nicht an den Schreibtisch, in den Proben- oder Schneideraum. Allerdings besitzen Theater, Literatur, Kino und bildenden Künste gegenüber dem politischen Aktivismus oder dem journalistischen Bericht die Fähigkeit, diese Krisen zu reflektieren, menschlich erfahrbar zu machen, aus der Sicht der Besiegten und der Opfer neu zu schreiben und so eine neue Form von kollektivem Verständnis zu generieren – was natürlich seine Zeit braucht. Genau an dieser Aufgabe scheitern wir nur zu oft, wie die aktuellen Ereignisse beweisen. Ich möchte aus dem eben erwähnten Brief von Lev Dodin an Putin zitieren: „Die Mission von Kunst und Kultur war und ist es, gerade nach all den Schrecken des 20. Jahrhunderts, einen Menschen zu lehren, den Schmerz das anderen als seinen eigenen wahrzunehmen, zu verstehen, dass keine Idee, und sei sie noch so groß und schön, die ein Menschenleben wert ist. Schon jetzt können wir sagen: Kultur und Kunst sind dieser Mission wieder einmal nicht gewachsen.“

Hier gibt es ein Preview auf das Festival Internationale Dramatik 2022:

Schiller hat gesagt: „Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt.“ Wird Putin dereinst in den Theatern der Prozess gemacht werden?

Daran glaube ich nicht. So wenig wie ein Newsroom ist ein Theater ein Gerichtssaal – es sei denn, die theatrale Fiktion besteht darin, einen echten Prozess zu inszenieren und die Bühne wirklich zum Gerichtssaal mit tatsächlichen Angeklagten und Richtern zu machen, wie Milo Rau das wirkungsvoll tut. Doch wer „Das Rad der Geschichte“ als Schauspiel auf der Bühne abbilden und dort sein Urteil darüber fällen möchte, endet meist in der Selbstkarikatur, so wie Thomas Bernhards „Theatermacher“.

Interessanter ist schon die Frage, in welcher Form die Künste einmal die Traumata des Putin-Regimes und seiner Angriffskriege – von denen der in der Ukraine ja nur einer ist – aufgreifen werden, ohne in die Falle des Gerichtssaals zu tappen. Ohne zur Reportage oder Kolportage zu werden. Viele arbeiten ja derzeit auf einen wirklichen, „weltlichen“ Prozess oder auch Volksaufstand in Russland hin. Doch ein Reenactment der Rede Putins vor dem Haager Tribunal oder Kammerspiel „Putin – Die letzte Nacht im Kreml-Bunker“ würden wir doch kaum sehen wollen. Auch wenn ein unrühmliches Beispiel der deutschen Filmgeschichte etwas Ähnliches einmal vorgemacht hat.

Ukraine-Krieg: „Geflüchtete aus Syrien müssen sich noch immer durch endlose Asylverfahren quälen“

Vor allem aber fürchte ich auch den Gerichtssaal als Selbstgerechtigkeits-Saals. Denn gerade die europäische Öffentlichkeit und ihre Künstler:innen müssten vor der „Gerichtsbarkeit der Bühne“ auch sich selbst der unbequemen Frage stellen, wo in all diesen Jahren ein vergleichbar empörter Protest gegen Putins Krieg in Syrien zur Aufrechterhaltung des Assad-Regimes geblieben ist; wo die Sanktionen, wo die kollektive Solidarität, wo die Bereitschaft zur uneingeschränkten Aufnahme von Flüchtlingen war, die jetzt scheinbar problemlos machbar ist, während Geflüchtete aus Syrien sich noch immer durch endlose Asylverfahren quälen müssen. Obwohl doch die Brutalität der russischen Kriegsführung und die Not der Menschen in beiden Fällen dieselben sind.

Ich habe mich in den letzten Tagen oft gefragt, wie viel alte Kalte-Kriegs-Mentalität und „Einflusssphären“-Ideologie noch unbewusst in unseren Köpfen steckt: Die Ukraine ist, von Westeuropa aus gesehen, seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion mehr unsere „Einflusssphäre“ als Syrien, deshalb ist auch unsere Empathie mit ihren Kriegsopfern größer. Damit möchte ich keineswegs die jetzige Welle der Solidarität mit der Ukraine in Frage stellen. Aber doch ihr Ausbleiben im Falle der vorherigen Kriege Putins.

Abseits der aktuellen Geschehnisse: Das Festival Internationale neue Dramatik hat es sich zur Aufgabe gemacht, neue theatrale Formen und Texte aufzuspüren und nach Berlin zu bringen. Was haben Sie dieses Jahr gefunden?

Zu einen möchten wir in zwei herausragenden Inszenierungen und einer Filmschau einen Artist in Focus beleuchten, den frankokanadischen Regisseur, Dramatiker und Schauspieler Robert Lepage, der seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert die theatralen Formen geprägt und verändert hat. Dann ermöglicht das FIND eine neue Begegnung mit zwei französischsprachigen Autorinnen und Regisseurinnen, die das Theater in seiner Diversität und jenseits einer oft erstarrten „franko-französischen“ Tradition erneuern: die Belgierin Anne-Cécile Vandalem und die vietnamesischstämmige Französin Caroline Guiela Ngyuen. Ihre Stücke, „Kingdom“ und „Fraternité“, sind deshalb gerade so erfrischend, weil sie die Bühne für etwas öffnen, das insbesondere im „seriösen“ deutschen Regietheater lange als verpönt galt: Dramatische Handlung mit „Genre-Elementen“, sei es Science-Fiction, sei es dystopische Szenarien.

Mit Dael Orlandersmith und Tina Satter sind zudem zwei US-amerikanische Theatermacherinnen zu entdecken, die noch nie in Deutschland zu sehen waren und in packender Weise zwei politische Ereignisse der jüngeren Zeit aufgreifen: in „Until the Flood“ den Mord an dem schwarzen Jugendlichen Michael Brown in Ferguson und seine Folgen in den verschiedenen Teilen der Gesellschaft, wobei alle Rollen von der Regisseurin selbst auf der Bühne dargestellt werde. Und in „Is this a Room“ den Fall der 2017 in einem politischen Schauprozess verurteilten Whistleblowerin Reality Winner, deren Verhaftung als Reenactment der realen FBI-Protokolle zu erleben ist.

„Eine ungeheure Freude und Lust zu spielen und auf der Seite der Zuschauer: das Verpasste nachholen.“

Zudem gibt es die Uraufführung eines Stücks des chilenischen Autors und Regisseur Marco Layera zu erleben, der die Hintergründe der Polizeigewalt gegen die chilenische Protestbewegung beleuchtet. Ein Gastspiel des derzeit in Frankreich arbeitenden schwedischen Künstlers Marcus Lindeen, „L’aventure invisible“, das von Menschen handelt, deren Identität in spektakulärer und zugleich doch unsichtbarer Weise plötzlich umgekrempelt wird. Und auch eine Premiere der Schaubühne ist im Programm: unter der Regie von Sarah Kohm die Dramatisierung von Annie Ernaux‘ letzten Romans „Erinnerung eines Mädchens“, der weit über Frankreich hinaus Furore gemacht hat.

Nachdem wir durch die Einschränkungen der Corona-Zeit beim letzten FIND vor allem Inszenierungen aus Nachbarländern gezeigt haben, geht der Blick des Festivals also nun wieder auch heraus aus Europa, und im nächsten Jahr hoffen wir, dann auch wieder Inszenierung aus Asien zeigen zu können.

Und in welchem kreativen Zustand stellt sich Ihnen das internationale Theater im Jahr 2022 dar?

In einem überraschend lebendigen und kraftvollen. Nach der langen Zeit der Kontaktbeschränkungen, Theaterschließungen und Probenunterbrechungen könnte man sich ja einen Zustand der Ermüdung und Depression befürchten, wie wir sie, zumindest hier in Berlin, im Alltag oft erleben. Aber bei den ersten Reisen zu den wiedereröffneten Theatern – die in einigen Teilen Europas ja schon seit dem Sommer oder Herbst 2020 wieder in Betrieb sind – habe ich das genaue Gegenteil erfahren. Eine ungeheure Freude und Lust zu spielen, und auf der Seite der Zuschauer: das verpasste nachzuholen. Und ich hoffe, dass sie auch in dem dunklen Moment, den wir gerade erleben, erhalten bleibt.

 

Interview: Volker Sievert

Das Festival Neue Internationale Dramatik läuft vom 31. März bis 10. April.  Mehr Informationen und das Programm gibt es hier.

Beitrag teilen:

Mehr Kulturhighlights imkulturnews.letter

Jetzt kostenlos abonnieren