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„A dirty Faust“ vom Theaterensemble Nesterval: Ein Mash-up aus Goethe und 80er-Tanzfilmen

Volkstheater Guerilla Nesterval
Laura Hermann als Dr. Flora Faust in „A dirty Faust“ (Foto: Alexandra Thompson)

Im August kommt die Volkstheater-Guerilla Nesterval mit der Deutschlandpremiere von „A dirty Faust“ zum Internationalen Sommerfestival Kampnagel nach Hamburg. Wir haben in Wien mit dem leidenschaftlichen Theatermacher Martin Finnland gesprochen.

Martin Finnland, im August kommt die Wiener Volkstheater-Guerilla Nesterval mit der Deutschlandpremiere von „A dirty Faust“ zum Internationalen Sommerfestival Kampnagel nach Hamburg. Dabei verbindet ihr den historischen Stoff von Goethes „Faust“ mit Tanzfilmen der 80er-Jahre. Das klingt im ersten Moment skurril. Wie kam es zu dieser Idee?

Ganz ehrlich: Meine Grundidee bei der Stückentwicklung vor acht Jahren war, den „Faust“ zu machen. (lacht) Unsere Autorin Teresa Löfberg dagegen hat sich zu dieser Zeit für Tanzfilme der 80er-Jahre begeistert. Zuerst haben wir im Scherz gesagt: Dann bringen wir das halt zusammen. Doch schon nach einigen Gesprächen mit viel Kaffee haben wir den gemeinsamen Nenner von Literaturklassiker und dem 80er-Jahre-Phänomen der Popkultur entdeckt. Das Thema heißt Schwangerschaftsabbruch oder Kindsmord. So wurde plötzlich aus einer zunächst eher seichten Tanzfilmästhetik das zutiefst wichtige Thema des Rechtes auf Selbstbestimmung von Frauen. Innerhalb unseres Ensembles ist das Thema gelebter Alltag, doch in der breiten Bevölkerung ist das noch nicht immer und überall angekommen.

Wie habt ihr die Geschichte entwickelt, die ihr in eurem Stück erzählt?

Für mich ist die zentrale Frage im „Faust“, inwieweit sich das Lebensglück mit dem Weg der Wissenschaft finden lässt oder ob das Glück darin liegt, die Sinnlichkeit in all ihren Facetten zu erleben. Ist das eigene Lebensglück zu rechtfertigen, wenn es auf Kosten anderer geht, wenn wir andere Menschen wie das Gretchen im „Faust“ ins Unglück stürzen? Und wie viel wollen, können oder dürfen wir uns leisten in Zeiten von Klimakrise und Ressourcenverbrauch? Für die Umsetzung eignet sich wunderbar ein Setting der 60er-Jahre in einem Hotel mit schöner Musik. Parallel dazu steht von Beginn an die Frage im Raum, wie es den Frauen in dieser Zeit wirklich gegangen ist – und das war nicht immer großer Sonnenschein.

Hat dieser feministische Aspekt Einfluss auf die Rollenbesetzung?

Die Protagonist:innen in unserem Stück sind Frauenfiguren. Auf sie beziehen sich auch die Haupthandlungsstränge. Sogar Dr. Faust ist bei uns eine weibliche Figur, die sich im Setting der 60er-Jahre, getrieben vom sozialen Umfeld, für die Karriere entscheidet. Das ist heute schwer, und das war es vor 60 Jahren noch einmal deutlich mehr. Mephisto ist bei uns ein trans Charakter, heißt Frau Karl und bietet der sehr verkopften und konservativen Frau Dr. Faust die Sinnlichkeit an. Hier liegt die Überschneidung zur Welt des Tanzes mit ihren ästhetisch-schönen Körperbewegungen und dem Sich-gehen-Lassen. Männer sind in unserem Stück eher schönes Beiwerk. Das dürfen sie ja ruhig auch mal sein. (lacht)

A dirty Faust
Martin Finnland (Foto: Alexandra Thompson für Nesterval)

Nesterval: Jeder Abend extrem abwechslungsreich

Was erwartet die Besucher:innen konkret?

Das Publikum checkt in der Rolle als Hotelgast ein und geht in kleinen Gruppen durch unterschiedliche Räume. Die erste Szene führt zu einer ausgelassenen Party, die zum Saisonabschluss des Hotels stattfindet. Die Feier wird jäh unterbrochen, als zwei Menschen tot aufgefunden werden. Ab hier wird die Zeit um Wochen zurückgedreht, damit die Gäste die Chance erhalten, zu sehen, wie es zu diesem tragischen Ende gekommen ist. Dem Publikum begegnen skurrile Hotelgäste und seltsames Personal, wobei Szene für Szene die Verstrickungen unter den Personen des Hotelkosmos immer deutlicher zu Tage treten. Spannend wird es, wenn der mysteriöse Hoteldirektor mit der mächtigen Frau Karl eine Wette auf die Seelen der einzelnen Besucher:innen abschließt, bei der es darum geht, ob sie eher dem Guten oder dem Bösen zugeneigt sind. Während der ganzen Zeit entscheiden die Besucher:innen selbst, welchem der einzelnen Charaktere sie folgen möchten, und ob sie aktiv den Spielverlauf in den dafür vorgesehenen Szenen beeinflussen wollen. Dadurch können sich im Spiel des dreistündigen Stücks bei jeder Aufführung Änderungen ergeben. Für uns ist jeder Abend deswegen extrem abwechslungsreich.

Als Theatergruppe ohne klassische Bühne bespielt Nesterval ganze Räume oder Gebäude. In Hamburg geht ihr in die ehemalige und nun leerstehende Volksschule von St. Pauli.

Ganz genau. Wir sind ohnedies wahnsinnig gern in Hamburg, und diese Schule ist ein fantastischer Ort, der für die drei Wochen beim Festival zum fiktiven Hotel Nesterval wird. Über drei Stockwerke richtet unsere Bühnenbildnerin Andrea Konrad Räume ein, die wirklich wie in einem Hotel zu erleben sind und hoch emotionale Begegnungen von Menschen ermöglichen. Es ist für uns aber auch grandios, mit einfließen zu lassen, in welcher Umgebung die Schule liegt. In St. Pauli ist doch alles Theater, wo jede:r Akteur:in, jede:r Tourist:in eine Rolle einnimmt. Das ist für mich als Regisseur ein befruchtender Ort, an dem natürlich sofort noch weitere Ideen kommen. Und dass unser Faust im Vergnügungsviertel von Hamburg gelandet ist, ist natürlich kein Zufall.

Verpasst das Publikum etwas, wenn es nicht alle Räume sieht?

Es ist doch schön, dass während einer Aufführung sicherlich nicht alle Räume gesehen werden können. Es wird Räume geben, von denen ein Gast erst in Gesprächen danach hört. „Und, warst du in Gretchens Kerker?“ Oder: „Was, da hat’s ’nen Kerker gegeben?“ Für mich hat es auch etwas Magisches, wenn nur Bruchteile von einer Sache sichtbar sind. Im besten Fall jedoch kommen Menschen wieder miteinander ins Gespräch, und es sind auf diesem Weg tatsächlich schon Freundschaften entstanden. Die Freunde besprechen dann, wann sie sich die nächsten Tickets kaufen und gemeinsam zu einem unserer Stücke kommen, um mehr zu sehen. Aber es ist ein ewig schmaler Grat, ein Stück so zu schreiben, dass eine Person das Gefühl hat, ihr wurde eine Geschichte erzählt, auch wenn sie allein in dem Stück ist, nur einem Charakter folgt und allein wieder aus dem Stück herausgeht. Es darf aber auch das Potenzial haben, dass aus dem einen Stück ein noch viel größeres Stück wird, wenn eine Person mit anderen über deren Erlebnisse spricht. Dramaturgisch ist das bei der Entwicklung eines Stücks für uns immer die größte Herausforderung.

Habt ihr eine Vorstellung von eurem idealen Publikum?

Es sollte sich auf immersives Theater einlassen können, offen und neugierig sein. Ob eine Person in den einzelnen Szenen ausschließlich zuschaut oder mit den Charakteren aktiv interagiert, ist unwesentlich. Wichtig ist, sich in die Fiktion hineinzubegeben und zu glauben, dass die von uns gespielten Szenen Realität sind. Im Idealfall entwickeln sich daraus Fragen, die bewirken, das Thema unseres Stücks auch einmal mit anderen Augen zu betrachten. Und natürlich sollte es einfach – genauso wie wir – Freude am Spielen mitbringen. Dann wird es für alle von uns ein tolles Theatererlebnis.

Interview: Lore Kalamala

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