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Vor der Morgenröte – Stefan Zweig in Amerika

Ein Erlebnis: Maria Schraders großartiges Biopic „Vor der Morgenröte“ über die Odyssee des Schriftstellers Stefan Zweig.

Erasmus von Rotterdam war für Stefan Zweig „der erste bewusste Europäer, der erste streitbare Friedensfreund, der beredteste Anwalt des humanistischen, des welt- und geistesfreundlichen Ideals“. So schrieb es Zweig in seiner Biografie über den niederländischen Gelehrten des 16. Jahrhunderts. Wenn man so will, dann war der Österreicher Zweig selber der zweite Europäer – denn auch der in den 30er-Jahren meistgelesene deutschsprachige Schriftsteller liebte die Vorstellung eines freiheitlichen, humanitären Europas, das alle Ethnien, Klassen und Konfessionen friedlich vereint.

Eine Welt, die es für Zweig Anfang des 20. Jahrhunderts gab, und die durch den Ersten Weltkrieg schwer zerstört und vom Nationalsozialismus endgültig vernichtet wurde. Der Jude Zweig muss 1934 ins Exil. Da setzt Maria Schraders aus sechs Episoden bestehendes Drama ein. Zweig, der hochsensible Verfasser der „Schachnovelle“, flüchtet vor dem unsagbaren Grauen, heimatlos, ziellos, bedrängt von allen Seiten, von Menschen, die den einflussreichen Starautor anflehen, ihnen bei der Flucht aus Europa zu helfen, bedrängt von der Öffentlichkeit, wie Thomas Mann politisch Stellung zu beziehen.

Zweig aber weigert sich, Nazideutschland zu verurteilen, der billig zu habende Applaus für eine so einfach zu deklarierende Position widert ihn an. Für den radikalen Pazifisten Zweig sind Geist und Politik zwei unvereinbare Dinge – ein Künstler kann nur durch sein Werk wirken. Doch eben das kann Zweig nicht mehr, denn in einer Welt, in der die alles vernichtende Faust des Faschismus herrscht, ist die Schönheit der Kunst eine verbrannte Blume am Wegesrand. 1942 kann Zweig nicht mehr zusehen, wie das Böse triumphiert, und nimmt sich im brasilianischen Petrópolis das Leben.

Schraders elliptischer Film, der einzelne Momente aus Zweigs Odyssee in Echtzeit herausgreift, erlaubt es, jenseits des Vollständigkeitsanspruchs eines herkömmlichen Biopics eine Tiefe und Sinnlichkeit in der Erzählung zu erreichen, die von den sattgrünen und holzbraunen Bildern von Kameramann Wolfgang Thaler kongenial ergänzt wird; Bildern, die stets ruhig beobachten und dem Menschen zugewandt sind, ganz wie der empathische Menschenfreund Stefan Zweig.

Und wie der eigentlich als Kabarettist und Darsteller schwarzhumoriger Privatdetektive bekannte Josef Hader diesen feinfühligsten aller großen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts verkörpert, so nuancenreich, sanftmütig und doch in Innersten zerbrochen: Das spiegelt ergriefend die verwundete Seele Zweigs wider, wie er sie in seiner wehmütigen Autobiografie „Die Welt von gestern. Erinnungen eines Europäers“ literarisch darlegte. Bildungskino, Flüchtlingskino, Biografiekino, Menschenkino – Maria Schrader schenkt uns einen Film jenseits aller Grenzen, auch das ganz im Sinne Zweigs. Man sollte sich dieses geistigen Vaters der modernen europäischen Idee erinnern. Gerade und dringend in Zeiten einer erodierenden EU. vs

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