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Yan Lianke: Lenins Küsse

Wer sich hierzulande über China informiert, stolpert immer wieder über Yan Lianke. Erst vor kurzem veröffentlichte der Schriftsteller einen bösen Essay mit dem Titel „Was die Schweine einmal wussten. Weshalb die chinesische Regierung eine Politik des kollektiven Vergessens betreibt“. Die letzten drei Romane Liankes wurden in China allesamt verboten, darunter „Der Traum meines Großvaters“, eine tieftraurige Liebeserklärung an die Heimatregion des Schriftstellers, die in den 1990ern von einer grauenvollen Aidsepidemie heimgesucht wurde. In dem jetzt erschienenen Roman „Lenins Küsse“ – in China bereits 2004 veröffentlicht – zieht Lianke einen Handlungsbogen von den Zeiten des chinesischen Bürgerkriegs der 1940er bis in die späten 90er-Jahre. Der 650-Seiten-Wälzer ist im Ton manchmal eine bitterböse Satire und dann wieder von enormer Einfühlsamkeit geprägt. Die Handlung beginnt im Juli 1998, als ein Schneesturm mitten im Sommer die Bewohner von Shouhou heimsucht und fast die gesamte Getreideernte vernichtet. Kreissekretär Liu Yingque – gerade auf dem Weg durch die Region – erlebt die Katastrophe live mit, bleibt über eine Woche im Dorf und krempelt Shouhou danach komplett um. Ein Machtkampf mit der Ortsvorsteherin Mao Zhi beginnt, denn sie weiß: Liu wird die Dorfgemeinschaft zerstören. Liu hat, seit er seine Karriere vor 15 Jahren als Funktionär startete, nur Reichtum für die Region im Sinn, und zwar um jeden Preis. Als er noch Amtsbürgermeister war, ließ er alle jungen Menschen mit dem Auftrag in die nächsten Städte treiben, innerhalb kürzester Zeit Geld zu machen und in der Heimatregion zu investieren. Kriminell durften sie sein, auch Prostituierte, nur eines war wichtig: dass sie Erfolg hatten und das Geld nach Hause brachten. Jetzt will Liu die gesamte Region zu einem Touristenmagneten machen, indem er Russland den Leichnam Lenins abkauft und in einem Mausoleum auf dem Seelenfeld unterbringt. Das Geld will er mit Hilfe der Bewohner Shouhous zusammenbekommen. Mao Zhi geht auf den Deal ein, setzt aber einen Vertrag durch, durch den das Dörfchen Shouhou ab dem nächsten Jahr völlig autonom sein wird. Yan Liankes Stärke liegt unter anderem in der geschickten Verschränkung von Zeitebenen und Handlungssträngen. Mal eben bringt er in einer Fußnote ganze Geschichten unter, die den Charakter und Werdegang einer wichtigen Person oder einen wichtigen Punkt in der chinesischen Historie spielerisch an den Leser bringen. Das sind Einschübe, die in anderen Büchern gerne nerven – hier machen sie schlicht Spaß. Inhaltlich ist dieses in seiner Linearität komplett aufgebrochene Buch eine bitterböse Farce auf den für China seit Jahrzehnten typischen, korrupten Staatskapitalismus.

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