Auf Leben und Tod: „Lives outgrown“ von Beth Gibbons
Wenn Portishead-Sängerin Beth Gibbons ein Soloalbum veröffentlicht, geht es um nicht weniger als einen Legendenstatus.
Der Moment, in dem man zum ersten Mal die Stimme von Beth Gibbons hört. Für die Älteren wird es im Jahr 1994 gewesen sein, als das Portishead-Debüt „Dummy“ erschienen ist, dieser düstere Meilenstein der Musikgeschichte, der mit einer Fusion aus Elektronik, jazzigen Arrangements und HipHop-Beats von der verregneten britischen Hafenstadt Bristol aus ein Genre namens TripHop in die Welt gebracht hat. Es ist die Performance von Beth Gibbons, die diese abgründigen Klagelieder maßgeblich prägt: wie sie sich meist in Schwarz gekleidet am Mikroständer festklammert, eine brennende Kippe in der Hand und das Gesicht hinter Haarsträhnen verborgen. Mit Songs wie „Roads“ und „It could be sweet“ hat sie eine ganze Generation durch Einsamkeit, Selbstzweifel und Schmerz geführt – und sich zugleich entzogen, denn Interviews mussten von Anfang an die Portishead-Kollegen übernehmen. Bis heute ist Beth Gibbons ein Mysterium geblieben, und immer waren da diese langen Wartezeiten auf neue Musik: 1997 erscheint ein zweites Portishead-Album, und dann vergehen ganze elf Jahre, bis das Trio mit „Third“ ein letztes Mal zurückkehrt. „I’m worn, tired of my mind“, singt Gibbons da in dem Song „Threads“.
„Lives outgrown“ von Beth Gibbons: Ein akustischer Anschluss an Portishead
Natürlich gab es 2019 ihre Aufnahme von Henryk Góreckis „Symphony of sorrowful Songs“, und 2022 taucht ihre Stimme in dem Song „Mother | Sober“ von Kendrick Lamar auf. Aber wer hätte da gewagt, auf ein Soloalbum von Beth Gibbons zu hoffen? Tatsächlich hat sie schon sehr lange an „Lives outgrown“ gearbeitet: Mehr als zehn Jahre waren nötig, um sich von Breakbeats zu emanzipieren. Für den neuen Sound hat sie sich Produzent John Ford und Talk-Talk-Schlagzeuger Lee Harris an ihre Seite geholt: Harris trommelt auf einer Paella-Schüssel, eine Kiste voller Gardinen dient ihm als Kickdrum. Ford krabbelt in ein Klavier, um die Saiten mit einem Löffel anzuschlagen. Und für den Raumklang kriechen alle Drei auf dem Studioboden herum, während sie über ihren Köpfen mit Röhren wirbeln und Tiergeräusche imitieren. So ist „Lives outgrown“ zwar ein akustisches Album, durch Streicher, schräge Bläser und Noise-Sprenkel schließt es aber dennoch an Portishead an.
So lustig und abenteuerlich die Aufnahmen, sind Müdigkeitkeit und Erschöpfung aber nicht verschwunden. „Without any question, I tried to begin/Tried to ignore that I might never win/Cos my heart was tired and worn“, singt sie in „Oceans“, einem Song, der Mutterschaft, Angst und die Wechseljahre verhandelt. Mit Themen wie Vergänglichkeit und den Verlust von Freunden und Familie ist es ihr bisher persönlichstes Werk, und erstmals äußert sie sich in einer Albumankündigung sogar zu den Inhalten der Songs. „Ich habe erkannt, wie das Leben ohne Hoffnung ist, und das war eine Traurigkeit, die ich noch nie gespürt hatte. Früher hatte ich die Möglichkeit, mein Leben zu ändern, aber wenn man gegen seinen Körper ankämpft, kann man ihn nicht zu etwas zwingen, was er nicht will.“
Es sind Kämpfe, denen wir uns alle zu stellen haben, und es ist beruhigend, dass Beth Gibbons zurück ist, um uns da durchzuführen. Falschen Trost bietet sie nicht an, doch das vermeintlich überstrapazierte Memento mori klingt bei ihr so ergreifend wie nie zuvor. „All we have is here and now“, heißt es in „Floating on a Moment“, wenn sie ihre Stimme auf einem Kinderchor bettet. Es ist ein Moment, der sogar die erste Begegnung mit der Stimme von Beth Gibbons toppt.