„Babysitter“ von Joyce Carol Oates
In „Babysitter“ lässt Joyce Carol Oates eine Frau gegen männliche Gewalt kämpfen. Doch gleichzeitig will ihre Heldin auch ihre Sehnsüchte befriedigen …
In „Babysitter“ von Joyce Carol Oates spannt sich der elegante Bogen des Plots von #MeToo über scheinheilige Priester bis hin zu Black Lives Matter.
„Babysitter“ von Joyce Carol Oates ist unser Krimitipp der Woche.
Die Handtasche: Prada. Das Halstuch: Dior. Die 39-jährige Hannah führt als Hausfrau und Mutter von zwei Kindern ein gehobenes Mittelschichtsleben im Detroit der späten 1970er-Jahre. Nur das Gefühl, als Frau noch begehrenswert zu sein, kann sie sich nicht kaufen. Nach elf Ehejahren ist Hannah der leidenschaftliche Sex abhanden gekommen. So sucht sie den Kick in einer anonymen Affäre. Ein „Bitte nicht stören“-Schild hängt vorsorglich schon an der Tür des Grandhotelappartments 6183. Hannah stöckelt in High Heels darauf zu; und stolpert leichtsinnig in eine Falle, als sie sich hier mit YK trifft. Er ist ein menschliches Raubtier, sie erfährt Demütigung und Gewalt. Es zeugt von Joyce Carol Oates’ ganzem Können, wie sie die Brutalität der sexuellen Misshandlungen beschreibt: ohne Voyeurismus, dafür eindringlich und fast schon quälend ausführlich. Genauso wie die parallel geschilderten Taten eines Serienmörders. Der wird Babysitter genannt, weil er die Körper seiner kleinen, weißen Opfer gebadet und nackt wie Neugeborene inszeniert. Joyce Carol Oates bindet damit eine reale Mordserie der damaligen Zeit ein und lässt sie für Hannah immer bedrohlicher werden. Die taumelt zwischen Schmerz, Selbsthass und Schuldgefühlen. Zugleich ist sie erschrocken über ihre lustvolle Faszination für YK, der sie mehrfach ins Hotel bestellt und später sogar damit erpresst. Hannah versucht, weiterhin zu funktionieren: Sie will sich und ihre Kinder nicht nur vor dem Babysitter schützen, der in der Nachbarschaft mordet. Und sie will ihrem Horror endlich ein Ende setzen, der für Hannah schon früh begonnen hat, wie Andeutungen auf Missbrauch durch ihren Vater erahnen lassen.
Joyce Carol Oates zeichnet beeindruckend souverän ein beklemmendes wie ambivalentes Menschenbild, welches sich hinter bürgerlichen Gesellschaftskulissen verbirgt. Von #MeToo über scheinheilige Priester bis hin zu Black Lives Matter spannt sich der elegante Bogen des Plots. Als Hannah erneut von YK ins Hotel bestellt wird, kann sie sich ihm zwar nicht entziehen – aber sie sucht nach einem finalen Ausweg. So kehrt Joyce Carol Oates am Ende fast wortgleich an den Anfang ihres Noirs zurück. Die Handtasche: Prada. Das Halstuch: Dior. Die Magnum: Smith & Wesson …
Mit „Babysitter“ hat es Joyce Carol Oates auf unsere Liste der besten Krimis im Juni 2024 geschafft.