Benedict Wells: Die Wahrheit über das Lügen
Mit der Textsammlung „Die Wahrheit über das Lügen“ beweist Benedict Wells seine Vielseitigkeit – auch wenn am Ende doch wieder Tränen fließen.
Steigt man gleich mit der ersten Geschichte in den Erzählungsband ein, bekommt man es zunächst mit der Angst zu tun, auch Benedict Wells könne den zahllosen Deutschpop-Songwritern verfallen sein, die in ihren vermeintlich nachdenklichen Momenten vor Karrierismus und den Überforderungen der digitalen Welt warnen: In „Die Wanderung“ geht es um einen Machertypen namens Henry M., der auch im Ferienhaus mit seiner Familie noch einen wichtigen Geschäftsdeal klarmacht und dadurch Gefahr läuft, den achten Geburtstag seines unter schweren Migräneanfällen leidenden Sohnes zu verpassen. Doch natürlich spielt Wells nur mit der Vorhersehbarkeit und unterläuft die allzu platte Message mit einer spektakulären Auflösung. Trotzdem hilft der Vergleich zur Musik bei der Verortung des Bandes „Die Wahrheit über das Lügen“ weiter, nur eben ganz anders: Nach vier Romanen gönnt sich der mittlerweile 34-jährige Autor ein Best-of seiner Kurzprosa, und unter den zehn Geschichten aus den letzten zehn Jahren befinden sich auch zwei Texte aus den Schreibsessions für seinen letzten Bestseller „Vom Ende der Einsamkeit“, die es letztlich nicht in den Roman geschafft haben. Für „Die Nacht der Bücher“ muss man „Vom Ende der Einsamkeit“ nicht kennen, da es sich um eine von der Hauptfigur Jules verfasste Kurzgeschichte handelt. Auch ohne Vorkenntnisse hat man großen Spaß daran, wie die Klassiker der Weltliteratur in einer Londoner Bibliothek plötzlich miteinander kommunizieren und in einen Streit geraten. Doch bei „Die Entstehung der Angst“ warnt Wells all diejenigen, die seinen Erfolgsroman gelesen haben, da der Text die Kindheit von Jules’ Vater offenbart – was für die emotionale Verarbeitung des Romans in der Tat nicht unwesentliche Folgen hat.
Herzstück der Textsammlung ist jedoch die Titelgeschichte, in der ein erfolgloser Drehbuchautor der Gegenwart per Zeitreise in das Jahr 1973 gelangt und nun vier Jahre Zeit hat, George Lucas die Idee zu „Star Wars“ zu stehlen. Noch abgedrehter kommt das surreale Kammerspiel „Ping Pong“ daher: Zwei junge Männer werden über Monate in einem kargen Raum festgehalten, in dem sich nur eine Tischtennisplatte befindet. Doch absolutes Highlight ist der letzte Text des Bandes: Die klassische Kurzgeschichte „Hunderttausend“ beweist, warum der zwischen Berlin und Bayern pendelnde Autor zu den derzeit wichtigsten Gegenwartsautoren zählt. Wenn Wells von dem Enddreißiger Daniel erzählt, der seinen Vater an dessen 80. Geburtstag vorwirft, der Auseinandersetzung mit dem Selbstmord von Daniels Mutter stets ausgewichen zu sein, schreibt er ganz dicht an der Grenze zum Kitsch. Und doch gelingt es ihm, die ganz großen, emotionalen Themen ohne jedes Pathos zu verhandeln.