Benjamin Clementine: I tell a Fly
Benjamin Clementines Barockpop klingt, als wäre er nicht von dieser Welt. Und wenn er jetzt mit „I tell a Fly“ Aleppo und all die anderen Brennpunkte unserer Gegenwart besucht, sollte man ihm auf keinen Fall ein politisches Album unterstellen.
Benjamin, schon zur Veröffentlichung deines Debütalbums hast du gesagt, dass du dich als Künstler nicht auf die Musik beschränken willst. Damals hast du darüber nachgedacht, einen Gedichtband zu veröffentlichen oder deine Texte auf Leinwand zu bringen – aber von einem Theaterstück war noch nicht die Rede …
Benjamin Clementine: Ich kann keine Songs komponieren, ohne ein Theaterstück zu schreiben. Sonst würde ich mich ja als das Zentrum der Welt definieren und belehrend den Zeigefinger heben. Mit der ersten Platte habe ich meine persönliche Geschichte erzählt, trotzdem habe ich „At least for now“ als Schauspiel imaginiert. Der Ausgangspunkt für „I tell a Fly“ hatte auch einen ganz konkreten Bezug zu meiner Person, denn auf meinem USA-Visum stand dieser Vermerk: an alien of extraordinary abilities. Zunächst war ich empört und geschockt, aber dann konnte ich das für mich annehmen. Ich bin ein Wanderer, an vielen Orten bin ich fremd und falle auf. Ich bin ein Alien.
Zwar stellst du auf der neuen Platte auch Bezüge zu deiner Person her, trotzdem nutzt du diesen Ausgangspunkt, um aktuelle Geschehnisse in der Welt zu beobachten und zu verarbeiten.
Clementine: Die Form des Theaterstücks sollte mich davor bewahren, eine politische Platte zu machen. Ich hasse Musik, die predigt und anklagt. Der einzige Künstler, den ich für seine politische Musik verehre, ist Bob Marley. Wenn es nach mir geht, werden es die Prediger sein, die als erstes zur Hölle fahren. (lacht). Ihre Selbstgerechtigkeit und die sich wegen ihrer Verbissenheit automatisch verzerrenden Wahrheiten sind nicht zu ertragen.
Deswegen hast du eine sehr poetische Sprache gewählt und greifst zu Tiermetaphern und surrealen Bildern. Gleichwohl macht etwa ein Song wie „Paris cor blimey“ mit der Textzeile „Paris friend had a little pen“ den Bezug doch sehr deutlich.
Clementine: Da war Bob Marley schon ein Vorbild. Ich habe viele Interviews mit ihm gelesen, in denen er sich sehr explizit politisch äußert. Auch in seinen Songs sind gewisse Botschaften auszumachen – aber sie werden auf eine spielerische Art und Weise vermittelt. Ich wollte keine politische Platte machen, aber ich wollte zum Ausdruck bringen, wie sehr mich bestimmte Dinge betroffen machen, eben auch wie in Frankreich manipuliert wird, indem Ängste geschürt und Sündenböcke gesucht werden.
Vermutlich war es auch eine Befreiung, dich jetzt auf die Welt fokussieren zu können. In Interviews hast du ja teilweise schon sehr genervt reagiert, wenn man immer wieder mit dir über die Flucht aus dem religiösen Elternhaus und deine Zeit als obdachloser Straßenmusiker in Paris sprechen wollte.
Clementine: Ich musste diese Erfahrungen in meinen Liedern thematisieren. Hätte ich ein anderes erstes Album gemacht, wäre es eine Lüge gewesen. Songs wie „Cornerstone“ werde ich auch bei den kommenden Konzerten spielen, denn diese Vergangenheit hat mich geprägt und wird mich auch nie ganz verlassen. Gestört hat mich lediglich, wenn damit sensationslüstern umgegangen wurde. Das Sich-nicht-verstanden-Fühlen, all diese Gefühle, die mit dem Obdachlos-Sein zusammenhängen, prägen die Welt, in der wir heute leben.
Das Herzstück des neuen Albums ist zweifelsohne „Phantom of Aleppoville“, beim dem du versuchst, dich in die traumatischen Erlebnisse von Kriegsflüchtlingen einzufühlen, indem du Vergleiche mit den Diskriminierungen in deiner Schulzeit anstellst. Hast du keine Angst, dass man dir das als Anmaßung auslegen wird?
Clementine: Ich weiß, dass ich ein Recht auf meinen Schmerz habe. Wenn ich von meinen Mitschülern verprügelt und verspottet wurde, wenn ich in ihre lachenden Gesichter geblickt und geweint habe, unfähig mich zu wehren oder überhaupt zu reagieren, dann ist das ein Trauma, das ich auf ewig mit mir rumschleppen werde. Aber ich will diesen Schmerz nicht überhöhen, indem ich ihn mit Kriegserfahrungen vergleiche. Natürlich habe ich nicht ansatzweise eine Ahnung davon, was es heißt, in einem Kriegsgebiet aufzuwachsen. Doch als ich die Arbeiten des Psychoanalytikers Donald Winicott gelesen habe, der Mobbing-Erfahrungen mit den psychologischen Auswirkungen bei Kriegsflüchtlingen verglichen hat, habe ich darin eine Möglichkeit gesehen, mich ihren Gefühlen zu nähern – soweit mir das eben möglich ist. Es geht doch um die Essenz, ich muss ergriffen sein, um nachfühlen zu können. Das war mein Anliegen: Ohne aus direkten eigenen Erfahrungen schöpfen zu können, wollte ich Aleppo näherkommen als ein nüchterner Zeitungsartikel.
Auch musikalisch bist du dafür Risiken eingegangen. Statt erneut Gesang und Klavier in den Mittelpunkt zu stellen, setzt du auf opulentere Arrangements, oft hört man einen Synthie, der wie ein Spinett klingt, und sogar Chorgesang.
Clementine: Der Chor war schwierig. Ich liebe Oper, aber Backingvocals habe ich immer gehasst. Mir klingt das zu traditionell, weswegen ich beim Debüt auch komplett darauf verzichtet habe – aber gerade bei „Phantom of Aleppoville“ wollte ich kontrastierende Stimmen. Ich habe Sängerinnen aufgenommen – doch es war mir immer zu soulful. In dem Stück geht es ja darum, dass man sich unbehaglich fühlt, und man soll auch nicht alles verstehen, was gesungen wird. Am Ende habe ich meine Gesangsspuren übereinander gelegt und verfremdet.
Du hast ja „I tell a Fly“ sogar im Alleingang produziert.
Clementine: Schon bei „At least for now“ war ich Koproduzent, und ganz eigentlich war es auch dieses Mal Teamwork. Insgesamt haben 15 Personen an dem Album gearbeitet, aber ich fungierte als Regisseur, der jeden Knopfdruck überwacht. Es war eine extrem teure Produktion, denn daheim am Computer hätte das alles natürlich nicht funktioniert. Und ich habe selbst auch sehr viel Geld in das Album investiert. Wenn es sich nicht verkauft, könnte das böse für mich enden. (lacht)
Hast du Angst davor, deine Hörer zu überfordern?
Clementine: Es wäre für mich auch kein Problem, Popsongs mit Hooks zu schreiben. Ich könnte über die Liebe singen und mich mit Produzenten zusammentun, die sich auf diese Art von Musik spezialisiert haben. Immer wieder werde ich gefragt, ob es mir um Geld oder um Anerkennung geht. Doch das ist eine Frage, die mich gar nicht betrifft, denn ihr entscheidet doch, was ihr mir geben wollt. Scheiß auf den Ferrari: Wenn man den will, muss man vermutlich auch über ihn singen. Ich muss nur meine Miete zahlen können, und ich will mir Essen auf den Tisch stellen. Als ich den Mercury Prize gewonnen habe, hatte ich noch mein billiges Zimmer in einem Bordell in Montmartre. Und in England haben die Leute auch überhaupt erst ab diesen Zeitpunkt angefangen, sich für meine Musik zu interessieren: Jetzt hatte ich ja einen wichtigen Kritikerpreis gewonnen.
Von dem man sich ja auch erst mal emanzipieren muss.
Clementine: Ich gehe einfach von einer Zuneigungsbekundung aus, die mich als ganze Person betrifft – und nicht nur die Tatsache, dass ich so schön mit Falsettstimme singe oder das Klavier auf eine bestimmte Art und Weise spiele. Es soll nicht arrogant klingen, aber ich verlasse mich darauf, dass meine Platten eh erst so richtig wertgeschätzt werden, wenn ich tot bin. Ich will mich ja nicht beweisen und meine Fähigkeiten demonstrieren, sondern mich selbst herausfordern und neue Inspirationsquellen finden. Ich bin auf einer Mission – aber ich bin kein Prophet. Ich bin nicht für andere verantwortlich, sondern einzig und allein für die Tatsache, dass ich nur das mache, was ich wirklich will. Für mich ist das eine große Sache, da meine Eltern mich nie dazu angehalten haben. Und am Ende ist es auch die einzige direkte Botschaft, die ich an mein Publikum habe: Macht nur das, was ihr wirklich selber wollt.
Interview: Carsten Schrader