„Bis in alle Endlichkeit“ von James Kestrel
Thrillerautor James Kestrel schickt seinen Privatdetektiv in „Bis in alle Endlichkeit“ auf eine Mörderjagd – doch der traut plötzlich seinen Augen nicht mehr …
„Bis in alle Endlichkeit“ von James Kestrel ist unser Krimitipp der Woche
Wer aus großer Höhe fällt und auf das Dach eines Autos kracht, hat wenig Überlebenschancen. Privatdetektiv Lee Crowe findet in den dreckigeren Straßen von San Francisco die Leiche einer 20-jährigen Frau, die anscheinend Selbstmord begannen hat. Vermutlich ist sie aus einer der höheren Etagen des Hauses gesprungen, vor dem sie nun liegt. Kein Puls. Kein Atemzug. Eindeutig tot. Instinktiv macht er ein Foto, welches er an eine Boulevardzeitung verkauft. Künstlerisch inszeniert sieht es aus, wie die Blondine da im Cocktailkleid auf dem Wagendach des Rolls Royce ruht. Ihr Name wird sich bald als Claire Gravesend herausstellen, denn die schwerreiche Mutter meldet sich nach der Veröffentlichung des Bildes bei Crowe. Ihr windiger Anwalt Jim Gardner hat den Kontakt vermittelt. Der ist zugleich der ehemalige Chef des Privatdetektivs, dessen Anwaltslizenz entzogen wurde, nachdem er einen Richter ausgeknockt hatte.
Crowe soll nun Beweise finden, dass Claire gewaltsam in die Tiefe gestürzt wurde. Dabei wird es immer rätselhafter: Bei der Autopsie der Leiche werden kreisrunde Narben an der Wirbelsäule entdeckt. Eine Zeugin will Claire am Tag zuvor in deren weit entfernten Haus in Boston gesehen haben, wo sie studiert hat. Crowe fliegt hin und wird in der Wohnung von einem bewaffneten Eindringling überrascht. Aber das ist kein Thema für Crowe: Der benötigt deutlich mehr Zeit zur Beseitigung der Blutflecken, als den Angreifer auszuschalten. Zurück in San Francisco bekommt Crowe heraus, dass es auch noch eine Zweitwohnung des Opfers gibt. Und dort findet er die totgeglaubte Claire schlafend auf dem Bett. Ein erschrecktes Erwachen. Ein Schrei. Eindeutig lebendig …
James Kestrel steht für ungewöhnliche Noir-Krimis mit Retro-Flair
James Kestrel ist ein Pseudonym von Jonathan Moore („Poison Artist“, 2023), unter dem er den sehr erfolgreichen Roman „Fünf Winter“ (2023) veröffentlicht hat. Kestrel steht für ungewöhnliche Noir-Krimis mit Retro-Flair, in deren Verlauf er mit raffiniertem Wechselspiel auf unterschiedlichen Genre-Klaviaturen zu überraschen weiß. Das Setting seiner neuen Geschichte entlehnt James Kestrel gekonnt dem klassischen Detektivroman, doch verortet er es in einer Gegenwart, die er immer mehr zu einer horrorhaften Vorschau auf eine nahe Zukunft geriert. Kestrel unterhält aufs Feinste, da er die vielen Enden seiner mitunter verworrenen Erzählfäden souverän miteinander verknüpft. Der Roman funktioniert auch deshalb, weil der ausgeklügelte Plot erschreckend plausibel und glaubhaft erscheint.
Zeitweise bekämpft er den Wahnsinn mit vier Pistolen
Was es mit der wiederauferstandenen Claire auf sich hat, wird eine logische Erklärung finden, die ganz und gar nicht aus der Science-Fiction entlehnt ist. Ihr Leben ist nicht so einzigartig wie gedacht, und damit thematisiert Kestrel die Frage, was Identität überhaupt bedeutet. Medizinisch fragwürdige Methoden könnten für eine zahlkräftige Klientel zum Jungbrunnen werden und deren Leben künstlich verlängern. In welche Gesellschaftsschichten die Spuren der Täter also führen, ist erwartbar. Gut, wenn es da so einen wie Lee Crowe gibt, der sich mit seinen Spitzel-Spezies bei der Polizei sowie einer harten Geraden den Gegnern entgegenstellt. Zeitweise bekämpft er den Wahnsinn mit vier Pistolen – was sich bei so manchem nicht gerade lebensverlängernd auswirkt …
Ach, dieser ewige Menschheitstraum vom ewigen Leben! Aber vielleicht wäre es ja manchmal gar nicht so schlecht, ein Backup von sich selbst zu haben!?!
Mit „Bis in alle Endlichkeit“ hat es James Kestrel auf unsere Liste der besten Krimis im Oktober 2024 geschafft.